Pässe und Bergstraßen -  Montagne de Lure

Provence
Montagne de Lure 

Montagne de LureMontagne de Lure

Sisteron, 21. August 1987

Ausgangspunkt der Tour ist das Städtchen Sisteron, das Tor zur Provence. Vom Lac d'Embrun kommend, wo Freund Rainer noch vergeblich versucht hatte mir das Surfen beizubringen, bin ich gestern am frühen Nachmittag hier eingetroffen und habe mein Zelt auf dem 'Camping Municipal' am Ufer der Durance aufgeschlagen. 

Lac d'EmbrunLac d'Embrun

Der Campingplatz liegt sehr idyllisch am linken Ufer der Durance, oberhalb der Einmündung des Flüsschens Buëch. Jetzt, wie immer im August, ist der Platz gut belegt. Trotzdem habe ich noch ein schönes 'Emplacement' direkt am Flussufer gefunden. Nach Süden hin bietet sich hier ein eindrucksvolles Panorama. Links der schroff aufragende Fels der 'Montagne de la Baume', in der Mitte die malerische Brücke über die Durance und rechts, hoch oben, die Engstelle des Flussdurchbruches bewachend, die Zitadelle. 

Sisteron mit Zitadelle Sisteron mit Zitadelle, Ansicht aus Richtung Süden

Sisteron, mit seiner das Tal beherrschenden Festung, kann auf eine bewegte Geschichte zurückblicken. Gegen einen geringen Obolus gibt die Zitadelle selbst, in Ich-Form, bereitwillig und in mehreren Sprachen, über Lautsprecher darüber Auskunft. Unter anderem erfährt man so auch die Episode von Napoleons Rückkehr aus Elba. 

Man schreibt den 5. März des Jahres 1815. Ein strahlend blauer Frühlingshimmel wölbt sich über dem Tal der Durance. So gegen 10 Uhr vormittags zieht, vom linken Ufer des Hochwasser führenden Flusses kommend, Napoléon Bonaparte , Kaiser der Franzosen, mit einer kleinen Schar Getreuer auf die Brücke 

Die BrückeDie Brücke

Dort hält er kurz an, sammelt sein wehrhaftes Häufchen um sich, lässt seinen Blick zur Zitadelle hoch schweifen, und orakelt nicht ohne Pathos in der Stimme: "Soldaten, wir sind gerettet, wir sind in Paris!" 

Vor knapp einem Jahr hatten ihn seine europäischen Herrscherkollegen mit vereinten Kräften zur Abdankung gezwungen. Als Bestrafung für seine fortgesetzten Eroberungsfeldzüge wurde er auf die schöne Insel Elba verbannt. Nicht dass seine von Gott persönlich eingesetzten, hochwohlgeborenen Gegenspieler kriegerische Eroberungen etwa für besonders unmoralisch erachteten, nein, auch sie schätzten diese bisweilen lukrativen Gemetzel. Es war die maßlose Übertreibung die dieser korsische Emporkömmling niederen Adels bei diesem Geschäft an den Tag gelegt hatte, die ihr entschiedenes Missfallen erregte. Als besonders bedrohlich wurde zudem empfunden, dass sich quasi im Schlepptau seiner recht erfolgreichen 'Grande Armée' die gefährlichen Ideen und Ideale der Revolution über Europa ausbreiteten.    

So warteten denn seine britisch-preußischen Kontrahenten nur auf eine passende Gelegenheit, sich des Übels Napoléon zu entledigen. Im Jahre 1814 war es dann soweit. Der große Russlandfeldzug endete für den sieggewohnten Imperator mit einem Fiasko. Seine Hauptstadt wurde besetzt, er selbst zur Abdankung gezwungen und auf das eigens für ihn geschaffene Fürstentum Elba im Mittelmeer verbannt. Seinen Titel 'Kaiser der Franzosen' durfte er behalten. Das Leben auf Elba wird wohl nicht ganz seinem Gusto entsprochen haben, gab es doch außer einem kleinen Heer von Lakaien und Bediensteten nichts zu kommandieren. Anstatt das schöne Ambiente der Insel zu genießen, wie das in unserer Zeit Tausende zufriedener Touristen tun, sann er beharrlich nach Wegen zur Rückkehr nach Paris und an die Macht. 

Heimlich rekrutierte er eine kleine Schar ihm treuergebener Patrioten und machte sich schon bald in aller Eile auf den Weg. Am 1. März landete er in Cannes und zog von dort auf verschlungenen, oft noch schneebedeckten Pfaden, der heutigen 'Route Napoléon', nach Norden. Nach einem entbehrungsreichen 4-tägigen Marsch steht er schließlich vor dem Nadelöhr Sisteron, wohlwissend, dass sein 'come back' nur gelingen kann, wenn ihn diese verflixte Zitadelle unbeschadet und ohne großen Zeitverlust passieren lässt. Ihm ist bekannt, dass die Stadtoberen und der überwiegende Teil der Bevölkerung eher mit dem royalistischen Lager sympathisieren. Ein wohlwollender Empfang ist also nicht so ohne weiteres zu erwarten. Am Abend zuvor, bei seiner Ankunft im nahen Malijai, hatte er deshalb seinen General Cambronne mit 100 Berittenen losgeschickt mit der Order, koste es was es wolle, die Obrigkeit der Stadt und den Kommandanten der Festung zum Stillhalten zu verpflichten. 

Erstaunlicherweise erhält er noch in derselben Nacht, kurz vor Morgengrauen, durch einen Eilboten die erhoffte Nachricht. Der Weg ist frei! Vermutlich wäre das Erstaunen nur halb so groß, wüsste man um das Spiel hinter den Kulissen, um die möglicherweise angedrohten Repressalien und/oder versprochenen Gegenleistungen. Jedenfalls, der Festung wäre es ein leichtes gewesen, mit der geballten Überzeugungskraft ihrer 20 auf die Brücke gerichteten Kanonen, den Kaiser und seine noch geringe Gefolgschaft aufzuhalten und zur Umkehr zu bewegen. Der triumphale Marsch auf Paris wäre so vereitelt worden, und die Herrschaft der 100 Tage wäre buchstäblich ins Wasser gefallen. Auch Stephan Zweig hätte seine großartige Novelle 'Die Weltminute von Waterloo' nicht schreiben können. Ganz zu schweigen von den -zig tausend Toten auf allen Seiten, die das letzte Massaker gekostet hatte. Und nicht zuletzt, die 'Route Napoleon' wäre auf den Abschnitt Cannes - Sisteron beschränkt geblieben, und der nördliche Teil der Nationalstraße N85 müsste heute ohne sein schmückendes Attribut auskommen. 

172 Jahre später. 

Es ist 8 Uhr, ein strahlender blauer Sommerhimmel wölbt sich über dem Tal der Durance. Der Fluss führt schon lange kein Hochwasser mehr. Er wurde vor Jahren reguliert. Ich sitze beim Frühstück vor meinem Zelt, mein Blick schweift immer wieder hinauf zur Zitadelle. Herab weht beständig ein leichter Hauch von Geschichte. Nach einem letzten Schluck 'Café au Lait' mache ich mich langsam startklar, pumpe die Reifen meines Rennrades auf, überprüfe sorgfältig die Bremsen und fülle die Trinkflasche. Von der Vorfreude auf eine lohnende Bergtour getrieben, verlasse ich dann so gegen 9 Uhr beflügelt den Campingplatz. 

Auf der Brücke über die Durance halte ich kurz an und blicke noch einmal hoch zur Zitadelle. Geblendet von dem im hellen Sonnenlicht flimmernden Weiß von Fels und Gemäuer schließe ich für einen Moment die Augen. 

Zitadelle

Ich sehe mich, hoch zu Ross, umringt von einer bunten Schar aus Reitern und Fußvolk und höre mich schwadronieren: "Soldats, nous voilà sauvés, nous sommes à Paris!" Als Erwiderung glaube ich ein vielstimmiges " Vive l'impereur!" zu vernehmen. Auch das Pferd unter mir ist begeistert und fängt lauthals an zu wiehern. Das geht zu weit! Von Panik ergriffen reiße ich entsetzt die Augen auf. Der Spuk ist augenblicklich vorbei, die Brücke menschenleer und das Pferd unter mir ist ein Rennrad der Marke Peugeot. Ich bin erleichtert! Die Augustsonne in diesen südlichen Breiten ist tückisch und kann die merkwürdigsten Halluzinationen hervorrufen. Man sollte sich deshalb ihren sengenden Strahlen nie ohne Kopfbedeckung aussetzen! 

Unter Umgehung des Stadttunnels, gelange ich linker Hand durch ein kleines Gässchen, die Rue Saunarie, ins Stadtzentrum. Von dort führt dann, nach etwa 400 m auf der Hauptstraße, rechts die D53 über eine nicht zu unterschätzende Steigung in südwestlicher Richtung aus dem Ort hinaus. 

Es ist sehr heiß, und das bereits schweißfeuchte Trikot spendet während der anschließenden Abfahrt ins Jabrontal willkommene Kühlung. Flussaufwärts, der D946 folgend, erreiche ich nach etwa 5 km die Abzweigung nach Valbelle, wo der eigentliche Anstieg beginnt. Die Straße, sie nennt sich jetzt wieder D53, ist nicht in allerbestem Zustand. Die Teerdecke ist brüchig und mit Schlaglöchern gespickt. Bei leichter bis mäßiger Steigung schlängelt sich der Parcours in westlicher Richtung bergan. Die Sonne steht schon sehr hoch und der lichte Wald spendet kaum noch Schatten. An einem Picknickplatz lege ich eine kurzePause ein und nehme einen sparsamen Schluck aus der Trinkflasche. Halbwegs erfrischt geht's weiter. 

Kurz vor Erreichen der ersten Kehre macht es dann plötzlich "Zischsch" und aus dem Hinterrad entweicht schlagartig die Luft. "Kein Problem", denke ich "schließlich habe ich ja vorgesorgt und eine nagelneue Garnitur Flickzeug an Bord." Der Schlauch ist schnell freigelegt. Ein kleiner Dorn hat sich durch den Mantel gebohrt und dem Schlauch einen etwa 5 mm langen Riss zugefügt. Vorschriftsmäßig präpariere ich die Klebestelle und versehe sie mit einem passenden Flicken. Die anschließende Druckprobe verläuft allerdings etwas unbefriedigend. Der verflixte Flicken will partout nicht dicht halten!

Während ich noch überlege, woran es wohl liegen mag, und was nun zu tun sei, da kommt wie auf Bestellung, ebenfalls einem Drang nach Höherem folgend, ein Radler des Wegs. Es ist, wie ich später erfahre, André aus Nîmes, der hier in der Gegend mit seiner Frau Urlaub macht. Mit sicherem Blick für das Wesentliche erfasst er sofort meine missliche Lage und tut dies auch unverzüglich kund mit dem fragenden Ausruf:"Vous êtes en panne!?" Bejahend deute ich auf den schlaffen Schlauch. André zeigt sich sehr hilfsbereit, und ich schildere ihm mein Problem. Er meint, es läge wohl daran, dass der Schlauch nicht genügend aufgeraut sei, und ob ich denn kein Schmirgelpapier hätte. Ich zeige ihm das zu diesem Zweck benutzte Aufraublech. Verächtlich winkt er ab, damit ginge es nicht. Da aber auch er über kein geeignetes Reibzeug verfügt, stellt sich nun wie von selbst die Frage nach meinem Reserveschlauch. Beschämt muss ich gestehen, ausgerechnet heute keinen dabei zu haben. 

Andrés missbilligender Blick verrät zweierlei: Erstens, seine Kritik ist völlig berechtigt, man sollte nie ohne Reserveschlauch unterwegs sein, und zweitens, er als Profi hat selbstverständlich einen in seiner Satteltasche. Es entsteht eine besinnliche Pause, in der sich jeder sich so seine Gedanken macht. Während ich hoffe, er möge sich nicht länger zieren mir nun seine Schlauchreserve anzubieten, scheint er zu überlegen, wie er sich ohne Preisgabe derselben aus der Affäre ziehen könne. Zu meiner Erleichterung fällt ihm aber offenbar kein eleganter Ausweg ein. Großzügig bietet er mir schließlich seine 'chambre à air' zum Einbau an. 

Meinen Wunsch die Angelegenheit sofort und auf der Stelle mit Geld zu regeln lehnt er jedoch entschieden ab. Ich möge ihm doch den Schlauch bei unserer Ankunft in Sisteron wieder zurückgeben. Es bleibt zunächst ungeklärt, ob es derselbe sein müsse, oder ob es auch ein anderer sein dürfe. Ich verzichte darauf, das für und wider dieser Vorgehensweise noch weiter zu diskutieren, bedanke mich überschwänglich und ziehe die Leihgabe über die Felge. 

Zusammen schrauben wir uns nun Kehre um Kehre die langgezogenen Serpentinen hinauf. Die provenzalische Sonne steht mittlerweile hoch im Zenit und lässt uns spüren, was das bedeutet. Kein Lufthauch bewegt die flirrende Hitze. Der Schweiß rinnt in Strömen. André hat es besonders schwer. Seine kleinste Übersetzung ist mit 42:23 nicht gerade bergfreundlich. Dies hat aber zur Folge, dass er etwas schneller ist als ich und sich der Abstand zwischen uns langsam aber stetig vergrößert. 

Von Zeit zu Zeit hält er an und lässt mich wieder rankommen. Ich frage mich, ob diese freundliche Geste wohl persönlich gemeint sei, oder ob er sich nur nicht allzu weit von seinem Reserveschlauch entfernen möchte. Ich will mir gar nicht ausmalen, was wohl passieren würde, wenn er nun seinerseits einen Platten führe. Ob er dann seinen Schlauch zurückfordern würde? Schließlich hat er ihn mir ja nur geliehen. Diese Gedanken beschäftigen mich, während wir uns stetig nach oben quälen. Das Tal liegt schon weit unten und die Fahrbahn wird immer schlechter, je höher wir kommen. 

Auf halber HöheAuf halber Höhe

Glücklicherweise erweisen sich meine Befürchtungen letztlich doch als unbegründet, wir erreichen ohne weitere Reifenpanne den 'Pas de la Craille'. Bis zum Kulminationspunkt der Passstraße unterhalb des 'Sommet de Lure' sind es jetzt noch etwa 3 km bei mäßig ansteigender Straße durch kahles, baumloses Gelände. Gegen Mittag treffen wir dort ein. Etwas außer Atem aber in hohem Maße zufrieden und in leicht euphorischer Stimmung, nehmen wir dort Aufstellung zum obligatorischen Gipfelfoto.   

AndréAndré

FergusDer mir dem geliehenen Schlauch

Wir befinden uns hier 1115 Meter über dem Niveau von Sisteron und es zeigt sich uns ein überwältigendes Panorama. Im Norden, sich nach Osten hinziehend, liegt unter einem leichten Dunstschleier ausgebreitet die gesamte Alpenkette. 

AlpenpanoramaAlpenpanorama

Aus Westen gleißt mit seinem kahlen, weißen Gipfel herausfordernd der Mont Ventoux herüber. 

Mont VentouxMont Ventoux 

Den 'Berg der Leiden' der Tour de France habe ich schon lange im Visier, er steht auf meiner Bergstraßenliste ganz oben und verlangt danach, endlich abgehakt zu werden. 

André hat es eilig wieder nach Sisteron zu kommen, wo seine Frau auf ihn wartet. Wir vereinbaren für den Fall, dass wir uns während der Abfahrt aus den Augen verlieren sollten einen Treff für die Schlauchrückgabe. Um 18 Uhr an der 'Tour de l'Horloge' in Sisteron! Die Südseite der Passstraße ist gut ausgebaut und mit einem neuen, griffigen Belag versehen. Die Abfahrt, zunächt auf der D53, ab dem Observatorium auf der D113, wird zum reinen Vergnügen. Ich muss mich bewusst mäßigen um vor lauter Begeisterung in den Kurven nicht zu schnell zu werden. Der kühlende Fahrtwind auf der durchschwitzten Kleidung lässt vorübergehend auch den inzwischen zur Plage gewordenen Durst vergessen. Kurze Zeit später treffen wir in St. Etienne ein, wo wir zuallererst unsere Trinkflaschen füllen. Es gibt Momente im Leben, da würde man frisches klares Wasser mit keinem anderen Getränk auf der Welt tauschen. 

Die engen Gässchen und der gemütliche Dorfplatz mit seinen schattenspendenden Platanen laden zum Verweilen ein. Gerne hätte ich mich vor einer der behaglichen Bars niedergelassen, einen kleinen Kaffee geschlürft und dem geschäftigen Treiben der Händler und Lieferanten zugesehen. Aber André hat es eilig, und so machen wir uns nach einer kurzen Rast wieder auf den Weg. Es ist immer noch sehr heiß. Die Luft flimmert, der Asphalt ist weich und klebt an den Reifen. Nach der rasanten Abfahrt fällt es schwer wieder bergauf zu radeln. Die Landschaft ist nun typisch provenzalisch, am Straßenrand zirpen ohrenbetäubend die Zikaden. Es riecht nach Thymian und Rosmarin. Hinter der Ortschaft Cruis wird das hügelige Gelände merklich flacher und schon bald geht es wieder bergab. 

In Mallefougasse trennen wir uns. André, der es sehr eilig hat, ist nun nicht mehr zu bremsen. Was mag der wohl für eine Frau haben?  

Ich lege eine kleine Rast ein, sehe mich im Ort noch etwas um und setze dann die Abfahrt zur Route Napoléon und nach Sisteron fort. Am Ortseingang befindet sich auf der linken Seite ein Fahrradgeschäft. Dort kaufe ich noch schnell zwei Schläuche, einen für André, den anderen für mich. Die Schlauchübergabe findet dann wie vorgesehen unter der 'Tour de l'Horloge', dem Uhrenturm, statt. 

'Tour de l'Horloge'
'Tour de l'Horloge' 

André erscheint pünktlich um 18 Uhr in Begleitung seiner Frau. Ich will die beiden noch auf einen kleinen Drink einladen, doch sie haben schon was vor und sind sehr in Eile. Eigentlich schade. Man hätte noch ein wenig über Bergtouren und die jeweiligen Erfahrungen parlieren können. Auf der Suche nach einem geeigneten Restaurant schlendere ich Speisekarten studierend durch die nicht unsympathische Altstadt, werde auch bald fündig und lasse den Tag bei einem schönen Abendessen gemächlich ausklingen.

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