Pässe und Bergstraßen -  Col d'Izoard

Provence-Alpes-Côte d'Azur

Col d'Izoard (2360 m) 

Embrun, 18. August 1987 

Sieben Uhr morgens. Der Zeltplatz 'la Tour', ein idyllischer, zum 'Camping à la ferme' umfunktionierter Obstgarten am Ostufer der Durance, ahnt noch nichts vom geschäftigen Treiben des heraufdämmernden Tages. Noch schläft alles, doch in den Zweigen der Obstbäume regen sich schon die ersten Vögel und beginnen nach und nach damit ihre Kehlen zu stimmen, um für die bald einsetzende allmorgendliche Kakophonie gerüstet zu sein. Ich habe nichts gegen diese eifrigen Sänger, doch wenn sie alle durcheinander trillern leidet das anspruchsvolle Ohr. Hier fehlt eindeutig die ordnende Hand eines Dirigenten! 

Über allen Zelten ist Ruh.....! Über allen ...? Nein ..! In einem kleinen Zelt in der Nähe des 'Bloc Sanitäre' zerreißt plötzlich der schrille Schrei eines Reiseweckers die friedliche Stille. Es ist meiner. Aufgeschreckt taste ich nach dem Störenfried, finde ihn schließlich verborgen zwischen Zeltwand und Luftmatratze und bringe ihn zum Schweigen. Dann öffne ich den Reißverschluss meines Zeltes und blinzle hinaus in einen noch taufrischen Morgen. 

Die Sonne war soeben aufgegangen und schickte sich an den Mt. Guillaume am jenseitigen Ufer der Durance langsam, von oben nach unten, in ihr warmes weiches Licht zu tauchen. Im Tal liegt noch leichter Dunst. Es wird wohl wieder ein heißer Tag werden, so wie gestern und die Tage davor, mit Temperaturen gut über 30 ° C. 

Während ich gestern noch, träge am Ufer des 'Lac de Serre Ponçon'   herum lungerte, in der Mittagsglut ein Bierchen nach dem anderen schlürfte und dabei dem Rainer beim Surfen zuschaute, soll heute Schluss sein mit  Müßiggang und 'dolce vita'. 

Combe QueyrasAm Lac de Serre Ponçon

Ich habe mir in den Kopf gesetzt mal eben von Guillestre über den Col d'Izoard nach Briançon, und auf der Nationalstraße wieder zurück nach Guillestre zu radeln. Ein Rundkurs mit einem Höhenunterschied von 1460 m und einer Länge von 83 km! Ein denkwürdiger Tag, meine erste namhafte Bergtour mit dem Fahrrad! Unter Radsportfreunden hat der Name Izoard einen guten Klang, ist doch dieser legendäre Alpenpass immer wieder Bestandteil der Tour de France gewesen. Auf seinem 2361 m hohen Gipfel befindet sich deshalb auch so eine Art kleines Museum, das der großen Radrundfahrt gewidmet ist. Dort soll auch ein Gästebuch aufliegen, mit den Einträgen der Tour Champignons Fausto Coppi und Louison Bobet, die da oben einige ihrer größten Erfolge verbuchen konnten. Angesichts der bevorstehenden Herausforderung fühle ich mich etwas unruhig. Das Frühstück will mir nicht recht schmecken, und ich muss mich dazu zwingen das Gummicroissant von vorgestern mit etwas Kaffee hinunterzuwürgen. Der Rucksack ist schnell gepackt. Er enthält nur das Nötigste, den Fotoapparat, etwas Proviant und eine Plastikflasche mit Wasser. Zusammen mit der Trinkflasche am Rad beträgt mein Getränkevorrat 1,5 Liter. Das wird hoffentlich reichen. 

Ich will mich soeben hinter das Lenkrad des alten Ford klemmen, da erscheint Freund Rainer im Eingangsbereich seiner weitläufigen Zeltanlage. Es folgt noch ein kurzes Schwätzchen. Er wird wieder mit Uschi und Gunnar Surfen gehen. Ich wünsche ihm noch Mast und Schotbruch, und während ich leise und im Schritttempo den Platz verlasse, ruft er mir noch nach, ich solle irgendetwas steif halten, ich glaube er meinte die Ohren. 

Um 9 Uhr treffe ich in Guillestre ein, parke das Auto auf dem Platz vor dem 'Bureau des Initiatives', dort wo die Passstraße D902 in den Ort einmündet. Geschwind hole ich das Rad vom Dach, überprüfe noch einmal kurz die Bremsen und mache mich sofort auf den Weg, meinem hochgesteckten Ziel entgegen. 

Die Straße, sie nennt sich D902, schlängelt sich zunächst auf halber Höhe durch eine schattige Schlucht, die 'Combe Queyras', entlang des Flüsschens Guil. Es ist noch angenehm kühl, die Steigung stellt keine besonderen Anforderungen, und die Fahrt durch die ansprechende Landschaft lässt sich voll genießen. 

Combe du QueyrasCombe Queyras

Nach knapp 17 km gabelt sich die Straße, und die D902 zweigt nach links in Richtung Arvieux ab. Nun ändert sich abrupt sowohl das Landschaftsbild als auch die Steigung. Die bisher enge Schlucht öffnet sich zu einem weiten Tal, und die Straße führt mit Anstiegen bis zu 7,5% über saftiggrüne Wiesenhänge.

Weites Tal

Ab Arvieux verläuft der Weg 4 km lang schnurgerade über offenes Gelände nach Brunissard. Es tritt sich schwer, der Hang ist steiler als es den Anschein hat. Kurz hinter Brunissard beginnen die Serpentinen! Sie ziehen sich in schier endloser Folge mit Steigungen bis zu 11% einen bewaldeten Bergrücken hinauf. 

SerpentinenIn den Serpentinen

Nun rinnt der Schweiß in Strömen, und die hochstehende Sonne trägt nicht unwesentlich dazu bei. Glücklicherweise verlangt die herrliche Bergwelt immer wieder mal anzuhalten um fotografiert zu werden. Der Regenerationseffekt dieser Zwangspausen ist mir sehr willkommen. Nach etwa 5 km lässt die Steigung plötzlich nach, vor mir eine kleine Senke, linkerhand eine Aussichtsplattform. Sie bietet einen unvergesslichen Blick auf die 'Casse Déserte', eine bizarre Einöde aus erodierten Felsblöcken und Geröll. 

Casse Déserte
Casse Déserte

Zwei in den Fels eingelassene Gedenktafeln erinnern an die Tourchampions Fausto Coppi und Louison Bobet. Es sind jetzt noch 2 km bis zur Passhöhe, die man von hier aus mehr ahnen als sehen kann. Ein kurzes Gefälle hilft noch einmal richtig Schwung zu nehmen für die letzte Herausforderung. Die Insassen entgegenkommender Autos veranstalten Hupkonzerte und tun durch aufmunternde Zurufe wie "Allez, allez, courage!" ihre Sympathie kund. Das hilft ungemein und mobilisiert die letzten Kraftreserven. In Frankreich genießt der Radsport einen sehr hohen Stellenwert. Endlich ist es dann geschafft. Was für ein euphorisches Glücksgefühl! 

Der Obelisk

Der Obelisk  

Der Obelisk markiert den höchsten Punkt der Passstraße. Gleichzeitig mit mir sind noch einige Radler hier angekommen und es beginnt sogleich ein wildes gegenseitiges Fotografieren. Der Obelisk ist wohl das meist fotografierte Objekt der Gegend. Überall herrscht rege Betriebsamkeit. Neben dem Tourmuseum gibt es auch noch Souvenir- und Imbissläden. 

Hier oben weht eine ziemlich steife Brise, was sich im durchschwitzten Trikot besonders unangenehm anfühlt. Trotz Windjacke fange ich bald erbärmlich zu frieren an und mache, dass ich schleunigst hier weg komme. 

Abfahrt nach NordenAbfahrt nach Norden   

Über die Serpentinen des Nordhanges geht es ziemlich steil und schnell nach unten. Der neue raue Straßenbelag ist zwar sehr griffig, lässt das Rad aber unangenehm vibrieren. Schon bald beginnen die Fingergelenke vom vielen Bremsen zu schmerzen. Höchste Zeit für die Mittagspause! In einem kleinen Wiesenstück am Straßenrand mache ich es mir gemütlich. 

MittagspauseMittagspause

Ich bin nicht sehr hungrig, dafür aber umso durstiger. Während ich lustlos an meinem mit Käse und Schinken belegten Baguette herum kaue, schießen immer wieder Radler an mir vorbei zu Tale. Es ist nicht leicht, ihnen dabei tatenlos zuzusehen. Schließlich halte ich es nicht länger aus, nehme noch einen letzten Schluck aus der Pulle und schwinge mich wieder in den Sattel. Die Abfahrt mit ihren 1000 Metern Höhendifferenz bis Briançon, wird zum bleibenden Erlebnis. Ich gerate in einen wahren Geschwindigkeitsrausch und muss höllisch aufpassen in den Kurven nicht zu übersteuern und auf dem Asphalt zu bleiben. Fliegen kann nicht schöner sein! In Briançon genehmige ich mir noch einen kleinen Kaffee und fülle meinen Getränkevorrat wieder auf. Dann mache ich mich auf den Rückweg über die Nationalstraße N94 nach Guillestre. Der Verkehr ist weniger schlimm als befürchtet, und es geht meist bergab. An den steileren Gefällstrecken, wie bei l'Argentière, gibt es Geschwindigkeitsbegrenzungen für Kraftfahrzeuge, auf die in regelmäßigen Abständen mittels quer über die Straße verlaufender kleiner wallartiger Erhebungen drastisch hingewiesen wird. 

Ein Autofahrer riskiert bei zu schnellem Fahren vielleicht die Federung seines Wagens zu demolieren, ein Radfahrer mit Tempo 60 riskiert sein Leben. Nachdem mich eine dieser Barrikaden beinahe vom Rad gefegt hatte, entdecke ich am rechten Straßenrand eine extra für Radfahrer angelegte, ca. 40 cm breite, ebene Passage. Wie schon gesagt, Franzosen haben ein Herz für Radfahrer! 

Kurz vor dem Ziel, auf der D902A, muss die nun schon müde Muskulatur wieder ran. Es wird noch mal ziemlich steil, doch die Aussicht auf ein kühles Bierchen in Guillestre motiviert Geist und Körper. Abends vor den Zelten, habe ich in Rainer, Uschi und Gunnar aufmerksame Zuhörer. Überflüssig zu erwähnen, dass dabei und zur Feier des Tages einige Fläschchen Wein geleert werden. Der köstliche, in der Durance gekühlte Apprémont lässt schon bald auch das lästige Sirren der allabendlich mit der Dunkelheit hereinbrechenden Stechmücken verstummen.

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