9. Etappe, von St. Florent nach Calvi

Montag 6.6.88 

Die Sonne steht schon ziemlich hoch, als ich um 9 Uhr 30 den Campingplatz verlasse. Ich bin froh, den Rücken wieder frei zuhaben. So ein Rucksack ist doch sehr lästig und hat die unangenehme Eigenschaft, je länger man ihn trägt, immer schwerer zu werden. In St. Florent war kein Ersatz für den gebrochenen Vorderradgepäckträger aufzutreiben. Es gab nicht einmal ein Fahrradgeschäft. An einer Tankstelle ließ man mich in einer Kiste mit allerlei Krimskrams nach Brauchbarem wühlen. Ich hatte Erfolg. Mit Hilfe eines Schlauchbinders gelang es mir die gebrochene Strebe des Gepäckträgers wieder notdürftig an der Radgabel zu befestigen. 

Bocca di Vezzu

Auf der D81 geht's über den Ort 'Casta' hinauf zur 311 m hohen 'Bocca di Vezzu'. Der Pass liegt inmitten einer einzigartigen, bizzaren Steinwüste, der 'Desert des Agriates'. Bevor die Gegend zur Wüste wurde, war sie lange Zeit die Kornkammer der umliegenden Gemeinden. Auch die Genuesen, die Korsika 5 Jahrhunderte lang dominierten und auf dem Festland kein ausreichend entwickeltes landwirtschaftliches Hinterland besaßen nutzten den fruchtbaren Landstrich. Die Region bescherte sowohl einer begrenzten Anzahl von Landwirten, als auch einigen Viehzüchtern ein sicheres Auskommen. Im Verlauf des Jahres wechselten sich Bauern und Hirten in der Nutzung des Gebietes ab. Den Winter über, etwa von Oktober bis Juni streiften Hirten mit ihren Schaf- und Ziegenherden durch die Gegend. Sie tauschten einen Teil ihrer Käseproduktion mit den Bauern gegen Getreide oder Olivenöl ein. Im Juni kamen die Bauern in Booten aus so entfernten Orten wie 'Nonza' und 'Canari' (Cap Corse) um die Getreideernte einzufahren. Sie pflügten ihre Felder und blieben bis zur Neuaussaat im Herbst. 

Wüste

Sein heutiges Renommee, als einzige Wüste Europas, verdankt die Landschaft den häufig praktizierten Brandrodungen und den immer wieder wütenden, durch den Mistral angetriebenen Feuersbrünsten. Dennoch scheint mir die robuste Macchia wieder auf dem Vormarsch zu sein. Sie erobert mit dem würzigen Duft ihres immergrünen, aromatischen Gestrüpps allmählich die Spalten und Nischen des kahlen Felsgesteins. Es ist heiß, und die Auffahrt zum Pass kostete viel Kraft. Ich muss unbedingt eine Erholungspause einlegen und mir die Beine vertreten. Das Rad am Straßenrand zurücklassend folge ich einem kleinen Pfad hinauf zu einem der umliegenden Felsbuckel. Was für ein Ausblick! Ringsum nur Fels und Gestrüpp! In den Felsspalten dezent blühende Steinbrechgewächse, und im fernen Dunst, ein schmaler blauer Streifen, eine Bucht, das Meer! Ich sitze auf einem Felsvorsprung und lasse das einzigartige Ambiente noch eine Weile auf mich einwirken. Dann begebe ich mich wieder zurück zu meinem Rad, das sich erfreulicher Weise immer noch an der selben Stelle befindet, wo ich es abgestellt hatte. 

Beschwingt geht es nun 300 Höhenmeter talwärts, in Richtung 'Calvi'. Eine schäumende Brandung an einem menschenleeren Strand in einer malerischen Bucht lädt zum Baden ein. Doch es führt nur ein steiler enger Pfad nach unten, zu schmal und zu steil für das schwerbepackte Rad. Eine erfrischende Abkühlung käme jetzt gerade recht, und es fällt mir schwer auf sie verzichten zu müssen. 

Badebucht

Wenig später erreiche ich das Städtchen 'L'Île-Rousse'. Seinen Namen verdankt die Ortschaft den roten Granitfelsen der 'Île de la Pietra', einer nach Norden hin vorgelagerten kleinen Inselgruppe. Ganz außen befindet sich ein Leuchtturm, der 'Phare de la Pietra'. Er geht auf das Jahr 1857 zurück und soll laut Michelinführer einen einzigartigen Ausblick sowohl auf die Inseln als auch auf Stadt und Hafen bieten. Noch im 18. Jahrhundert existierten an dieser Stelle der Küste nur ein paar vage Übereste einer römischen Siedlung sowie einer jener Genueser Türme, wie es so viele auf der Insel gibt. 

L'Il-Rousse

Aus Westen weht inzwischen eine ziemlich steife Brise. Der Mistral hält zwar den Himmel blau, macht sich aber als böiger Gegenwind unangenehm bemerkbar. Die Nationalstraße N197 führt meist mit dem üblichen Auf und Ab die Küste entlang. 

Am späten Nachmittag erreiche ich Calvi, errichte auf dem Campingplatz 'Cle des Champs' mein Zelt und unternehme noch einen kleinen Zug durch die Gemeinde. Während ich diese Etappe stichwortartig niederschreibe sitze ich in einem kleinen Restaurant am Hafen und harre der Dinge, die da kommen sollen. Ich habe mir einen original korsischen Schweinebraten bestellt. Die Schweine würden hier frei herumlaufen und sich überwiegend von Esskastanien, Eicheln, Bucheckern und würzigen Kräutern ernähren, was sie besonders schmackhaft mache. Das jedenfalls meint Monsieur Michelin, und der muss es wissen.

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