5. Etappe, von San Gimignano nach Pisa

Mittwoch 1.6.88 

Für meine Verhältnisse relativ früh, kurz nach 8 Uhr, breche ich in San Gimignano auf. Ich verlasse den Ort auf einer kleinen, kaum befahrenen Straße in nordwestlicher Richtung. Und es geht gleich richtig los! Mit 10 % -igen Steigungen ca. 180 Höhenmeter hinauf nach 'il Castagno'. Glücklicherweise habe ich hier auch schon den Höhepunkt der heutigen Etappe erreicht. Nach einer kurzen Verschnaufpause stürze ich mich in die Abfahrt. 300 Höhenmeter hinab, über Vicarello ins Tal des 'Fiume Era', einem Nebenfluss des Arno, dem ich dann auf der N439 flussabwärts folge. 

In der Nähe von Capannoli halte ich in den Flussauen meine mittägliche Rast. Es kommt leichter Wind auf. Schon nach kurzer Zeit beginnen mir die Augen zu tränen und eine Niesattacke folgt der anderen. In der Ferne, über den Getreidefeldern hat der ansonsten strahlend blaue Himmel eine schmutzig gelbe Färbung angenommen. Blütenstaub! Pollenflug! Und ich mitten drin! Hastig packe ich meine sieben Sachen wieder ein, binde mir in Ermangelung einer Gasmaske ein Geschirrtuch vor Mund und Nase und mache, dass ich davon komme. Ich mache mich aus dem Staub! Ha, ha! 

Schon bald wurde der Horizont wieder klar, und ich konnte meine Maske wieder ablegen und befreit durchatmen. Das Landschaftsprofil stellte keine besonderen Anforderungen mehr, es blieb überwiegend flach und in den Flussauen von Era und Arno leicht abschüssig. So gegen 17 Uhr traf ich in Pisa ein. Über den 'Ponte Solferino' überquerte ich den Arno. 

Pisa, Ponte Solferino
(Quelle: LINK)

Von der Brücke aus gesehen rechts, am linken Arnoufer, fällt besonders ein kleiner weißer Kirchenbau auf. Es handelt sich um die im Jahre 1230 erbaute Kirche 'Santa Maria della Spina', in der angeblich eine Dorne (spina) aus der Dornenkrone Christi aufbewahrt wurde. 

Im Großstadtgetümmel machte ich mich auf die Suche nach dem Campingplatz. Er liegt ganz im Westen, und ich musste mich durch den Feierabendverkehr regelrecht zu ihm durchkämpfen. Nach der beschaulichen Talfahrt tagsüber, eine ziemlich stressige Angelegenheit! Nachdem ich mein Zelt errichtet, mich geduscht und umgezogen hatte, machte ich mich wieder auf den Weg zurück zur Solferinobrücke und dann durch die 'Via Roma' direkt zum 'Campo dei Miracoli', dem Platz der Wunder.

schiefer turm
(Quelle: LINK

Das wunderlichste an diesem Platz ist wohl der schiefe Turm und die Tatsache, dass dieser noch nicht umgefallen ist. Als Wahrzeichen der Stadt befindet sich der 'Torre pendente' direkt neben dem Dom 'Santa Maria Assunata'. Seine architektonische Schönheit und vor allem seine statische Entgleisung machten ihn weltbekannt. Mit dem Bau des 55 m hohen Glockenturmes wurde 1173 begonnen. Schon während der Bauphase begann sich der Turm nach Südosten hin zu neigen, und der Bau wurde unterbrochen. Erst im 14. Jahrhundert wurde der Turm fertig gestellt. Man hatte dabei versucht die Schieflage zu korrigieren, weshalb der Turm im oberen Drittel einen leichten Knick aufweist. Derzeit beträgt die Abweichung von der Senkrechten etwa 8° oder 4,5 m, gemessen an der Turmspitze. Tendenz: zunehmend, um 1 mm pro Jahr. 

Zu erwähnen wäre da noch der wohl bekannteste Sohn der Stadt, der geniale Mathematiker, Naturwissenschaftler und 'Ketzer' Galileo Galilei, der um 1590 die Neigung des Turmes dazu nutzte um seine berühmten Experimente zum freien Fall durchzuführen. 

Pisa ist aller Wahrscheinlichkeit nach im 6. Jahrhundert v. Chr. von den Griechen gegründet worden. Später siedelten hier, wie überall in der Gegend, die Etrusker. Die Stadt lag damals noch direkt am Meer und der in der Folge von den Römern angelegte Hafen hatte große militärische und wirtschaftliche Bedeutung für das Imperium. 

Der erste Kreuzzug ins heilige Land war für die Pisaner ein lukratives Unternehmen. Die Stadt stellte einen starken Flottenverband und machte reiche Beute. Kunst, Handel und Gewerbe nahmen einen rasanten Aufschwung. Im 13. Jahrhundert, im Zenit ihrer Macht, kontrollierte die Republik Pisa den Nahen Osten, Griechenland, Nordafrika, Sizilien, Sardinien und die Balearen. 

Mit der Seeschlacht von Meloria im Jahre 1284 nahm dann all die Herrlichkeit ein jähes Ende. Von den Genuesern vernichtend geschlagen, versank die einstige Großmacht in der politischen Bedeutungslosigkeit. All das erzählt mir mein schlauer Toskanaführer während ich in der Via S. Maria auf der Terrasse eines gutbesuchten Ristorante sitze und auf das Abendessen warte. Nur einen Steinwurf vom schiefen Turm entfernt genieße ich den einzigartigen Anblick der einsturzgefährdeten Attraktion. Der Abend ist lau und der Verkehrslärm in der engen Straße ebbt allmählich ab und macht einer beinahe friedlichen Stimmung platz. Auf der Terrasse schaltet sich die Beleuchtung ein. Gedanklich bin ich längst bei der morgigen Etappe mit der Überfahrt nach Korsika. Ich bin froh, als der Ober endlich die Vorspeise bringt. Schnell wandert das ausgebreitete Kartenmaterial wieder in die Fototasche, morgen ist schließlich auch noch ein Tag!

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