13. Etappe, von Tiuccia nach Ajaccio

Freitag, 10.6.88 

Der 'Col de San Bastino' mit seinen 410 m Höhe hatte es in sich! Bei brütender Hitze kam ich völlig durchgeschwitzt dort oben an. Ich hielt mich nicht lange auf, nach einer kurzen Verschnaufpause machte ich schnell noch ein paar Fotos und stürzte mich dann sofort in die Abfahrt, hinab zum 'Col de Listincone' (232 m) und weiter abwärts nach Ajaccio. Gegen Mittag komme ich dort an. Es ist bullig heiß, ich bin völlig ausgetrocknet und lechze nach einem erfrischenden Getränk. An einem Kiosk im Hafen erstehe ich eine eisgekühlte Dose Kronenbourg, die ich auf der Stelle und viel zu schnell, in einem Zug, leere. 

Hafen1

An den Hafenkais liegt eine kunterbunte Flotte unterschiedlichster Fischerboote vor Anker. Ein farbenprächtiger Anblick, und überall regsames Treiben! 

Hafen2

Ich werde hier in Ajaccio, der Hauptstadt der Insel, einen Ruhetag einlegen, einen halben zumindest, und mir auf diese Weise wenigstens einen ungefähren Eindruck über die Sehenswürdigkeiten verschaffen, von denen Herr Michelin meint, man sollte unbedingt dort gewesen sein. Da gibt es unter anderem die Citadelle, erbaut Mitte des 16. Jahrhunderts auf einem Felsvorsprung hoch über dem Fischereihafen, die Renaissancekathedrale, mit deren Bau 1582 begonnen wurde und das Bonaparte Museum. Letzteres hat es mir besonders angetan, ist es doch in einem so geschichtsträchtigen Ort wie dem Geburtshaus Napoleons untergebracht. 

Mein Programm für den Nachmittag steht fest, doch zunächst gilt es einen geeigneten Campingplatz zu finden. Der Michelin-Campingführer empfiehlt einen sehr schönen 4-Sterne-Platz etwas außerhalb, westlich der Stadt. Kurze Zeit später treffe ich dort ein. Ich bin zufrieden. Herr Michelin hat nicht übertrieben. Hanglage, breite Terrassen, viel lichter Schatten unter hohen Pinien, und direkt am Meer mit gepflegtem Strand! Ganz oben, auf der letzten Terrasse, neben einer kleinen, halbhohen Mauer, die mir Tisch und Stuhl zugleich sein wird, errichte ich mein Zelt. Ich habe es eilig. Gleich nach dem Duschen schwinge ich mich in Ausgehkleidung wieder aufs Rad, zurück in Richtung Innenstadt. 

Samstag, 11.6.88 

Zu dem halben Ruhetag werden wohl noch zwei weitere hinzukommen müssen. Gestern, nach einem ausgiebigen Stadtbummel und einem guten Abendessen, begleitet von einem köstlichen Fläschchen Wein, fiel ich vor der Rezeption des Campingplatzes vom Rad und verstauchte mir dabei das linke Handgelenk. Das Ganze war mir nicht nur sehr peinlich, es tat höllisch weh! Die näheren Umstände und Ursachen meines Missgeschicks zu schildern möchte ich mir hier ersparen. Nur so viel: Die Rennriemen an den Pedalen können recht hinderlich sein, vor allem dann, wenn man in heiterer Stimmung plötzlich und unerwartet gezwungen ist anzuhalten. An eine Weiterfahrt, wie geplant, ist nun nicht mehr zu denken. Ich bin für einige Zeit, zwar nicht gerade ans Bett, so doch an den Strand des Campingplatzes gefesselt. Ein Los, das mit Fassung zu tragen mir nicht allzu schwer fallen wird. Ich denke zwei Tage werden ausreichen! Heute schon macht das Handgelenk wieder einen halbwegs passablen Eindruck, es ist zwar noch geschwollen und hat sich blaugrün verfärbt, doch die Schmerzen sind erträglich, dank einer Creme, die ich mir in aller Frühe in einer Pharmacie besorgt habe. 

Soeben habe ich einen rohen, noch lebenden 'Chapeau chinois', einen Chinesenhut, verspeist. Was das ist und wie es dazu kam sei hier kurz geschildert. Ich liege faul am campingplatzeigenen Strand, pflege mein lädiertes Handgelenk, in dem ich es ab und zu ins kühlende Nass halte und beobachte seit geraumer Zeit, wie sich eine komplette Familie, Vater, Mutter, zwei Kinder, Bub und Mädchen, 12 und 14 Jahre alt, an einem meerumspülten, mit grünem Tang bewachsenen Felsen zu schaffen macht. Sie reißen vom Fels irgend etwas ab, betrachten es kurz, führen es zum Mund und werfen irgend etwas wieder zurück ins Wasser. Interessiert rapple ich mich auf, trete vorsichtig näher und sehe, dass der Fels mit einigen Miesmuscheln bewachsen ist. "Ce sont des moules, que vous mangez?" frage ich das Familienoberhaupt in perfektem Französisch. "Non, c'est un délice, ce sont des .... des chapeaux chinoises" bekomme ich zur Antwort. Er zeigt mir eine kleine Muschel, etwa von der Größe eines 1-Mark-Stücks, einem Chinesenhut nicht unähnlich, und erklärt mir noch dazu, dass man sie blitzschnell mit den Fingernägeln am Rand ergreifen und abreißen müsse, da sie sich sonst am Fels festsaugen würden und nicht mehr abzubekommen wären. 

Einige vergebliche Versuche meinerseits bestätigen diesen Sachverhalt. So sehr ich mich auch bemühe, es gelingt mir nicht auch nur eine einzige dieser begehrten Meeresdelikatessen abzurupfen. Da kommt der Knabe, ein pfiffiges Bürschchen, der die Dinger natürlich mühelos abbekommt, strahlend auf mich zu und reicht mir ein besonders großes Exemplar. Ich solle es doch mal degustieren. Das bringt mich in arge Verlegenheit. Eigentlich wollte ich mich nur ein wenig unterhalten, mein Französisch eventuell etwas aufbessern und testen. Ich verspüre absolut keinen Appetit auf rohes, noch lebendes Meeresgetier. Doch nun sehen mich vier Augenpaare aufmunternd und erwartungsvoll an! Was tun? "Jetzt nur keine Blöße zeigen!" schießt es mir in den Sinn. Nach kurzem Zögern beiße ich, ganz Mann von Welt, beherzt hinein, löse die überraschend feste Masse schlürfend aus der Schale und verschlucke sie ohne mit einer Wimper zu zucken. Wohlgeschmack vortäuschend streiche ich mir anschließend genussvoll über den Magen und lasse eine zufriedenes "hmmm, c'est bon!" vernehmen. Das wird anerkennend registriert. Das Ding schmeckte nicht einmal schlecht, etwas salzig, und irgendwie nach Austern. 

Sonntag, 12.6.88 

Mein Handgelenk hat inzwischen alle Farben des Regenbogens angenommen, aber es schmerzt kaum noch. Ich denke morgen weiterfahren zu können. Den Vormittag verbringe ich lesend am Strand des Campingplatzes, begebe mich gelegentlich in die Fluten und versuche jedes Mal, jedes Mal vergeblich, einen dieser Chinesenhüte von den Felsen zu pflücken. Der Misserfolg weckt meinen Ehrgeiz. Ich versuche es immer wieder. Als es mir dann tatsächlich einmal gelingt eines dieser Schalentiere zu überlisten, wahrscheinlich habe ich es im Tiefschlaf überrascht, weiß ich nichts rechtes mit ihm anzufangen und setze es sofort wieder zurück. Mein Jagtrieb ist gestillt! 

Am Nachmittag teste ich mein Handgelenk auf Fahrradtauglichkeit und radle hinaus zur 10 km entfernten 'Pointe de la Parata', einer schmalen ins Meer ragenden Landzunge. Am äußersten Ende dieser Halbinsel steht ein Genueser Turm aus dem Jahre 1608, einer jener typischen Türme, wie sie hier entlang der gesamten Küste zuhauf anzutreffen sind. Auf einem schmalen Pfad, durch mannshohe Macchia, steige ich hinauf auf einen der grünen Buckel. Im Wärmestau des buschigen Gestrüpps herrscht ein würziger Duft nach allerlei aromatischen Kräutern. Oben bietet sich ein guter Überblick auf eine Reihe kleiner Inseln, die 'Iles Sanguinaires', die, wie aufgereiht auf einer Perlenschnur die Landzunge in einer geraden Linie fortsetzen. Die größere der Inseln bringt es immerhin auf die stolze Höhe von 80 m über dem Meeresspiegel, weshalb auf ihr auch ein weithin sichtbarer, die Einfahrt in den Golf von Ajaccio markierender Leuchtturm thront. In seinen 'Lettres de mon Moulin' rühmt der Schriftsteller Alphonse Daudet, der 1863 für ein paar Tage in dem Leuchtturm wohnte, mit der Erzählung 'Le Phare de Sanguinaires' die Schönheit der Landschaft und gibt Einblick in Leben und Arbeit der Leuchtturmwärter. 

Iles Sanguinaires

Die Genuesertürme dienten einst als Wacht- und Schutztürme gegen die 'Turchi', von den Küsten Nordafrikas einfallende barbarische Piraten. Diese verbrannten die Ernten, stahlen das Vieh, zerstörten die Gebäude und nahmen die Dorfbewohner zu Sklaven. Im Jahre 1560 wurden so 6000 korsische Gefangene nach Algier entführt! Um gegen diesen unheilvollen Ansturm zur Landplage gewordener Räuberbanden anzukämpfen, errichtete der Stadtstaat Genua, der 4 Jahrhunderte lang die Insel beherrschte, entlang der 500 km langen Küste ein ausgeklügeltes Überwachungs- und Alarmsystem. Es bestand aus einer stattlichen Anzahl von Türmen, die sowohl als Ausguck, als auch als Zufluchtsstätten dienten. Kaum kamen die Segel der Piraten am Horizont in Sicht, so entzündeten die Wächter oben auf ihren Türmen zur Warnung der Dorfbewohner weithin sichtbare Feuer, worauf diese ihr Vieh in Sicherheit bringen und sich selbst ins Landesinnere oder auch in die Schutztürme zurückziehen konnten. Heute existieren noch 67 Türme aus dem 15. und 16. Jahrhundert, vor allem auf dem 'Cap Corse' und entlang der Westküste der Insel, wo sie vornehmlich auf ausgesetzten Felsvorsprüngen anzutreffen sind.

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