9. Etappe, von Lestelle de Betharran nach Barthe de Neste

Dienstag 16. Juni 87

Ich hatte mich schon mit einem wetterbedingten Zwangsruhetag abgefunden. Doch so gegen 9 Uhr, nach dem Frühstück, wird mir der Gedanke, hier einen ganzen Tag tatenlos herumzusitzen, unerträglich. Mit dem festen Vorsatz, beim ersten Regenschauer die Etappe sofort abzubrechen, schwinge ich mich in den Sattel. Der Himmel ist einheitlich grau und verheißt nichts Gutes. Aber es bleibt trocken. Nach und nach nimmt die Wolkendecke sogar Konturen an und zeigt hie und da einige hellere Flecken. Im Tal des 'Pau', auf der relativ verkehrsreichen D 937, komme ich recht flott voran und erreiche nach einer knappen Stunde den wegen seiner Wunderheilungen bekannten Wallfahrtsort 'Lourdes'. 

In der Stadt herrscht ziemlich reger Verkehr. Entnervt steige ich ab und schiebe. In den Auslagen der Souvenirläden, von denen es hier nicht wenige gibt, dominiert christlichreligiöser Kitsch und Plunder. In allen Größen und Materialien türmen sich die Nachbildungen der 'Grotte von Massabielle', dem Quell all der unerklärlichen spontanen Wunderheilungen, die sich um diesem mystischen Ort ranken. Auch an transparenten Plastikmadonnen in allen Größen, gefüllt mit dem heilenden Wasser der wundersamen Quelle besteht kein Mangel. 

Ohne festes Ziel schlendere ich durch die Straßen und Gassen der Stadt, genehmige mir in einem kleinen Cafe ein zweites Frühstück und gelange schließlich auf ein offenes parkähnliches Areal, das den Blick auf einen neogotisch anmutenden Kirchenbau frei gibt. Dem Michelin Reiseführer ist zu entnehmen, dass es sich um die 'Basilique de l'Immaculée Conception', die 'Basilika der unbefleckten Empfängnis' handelt. 

BasiliqueBasilique de l'Immaculée Conception 

Auf der rechten Seite des Bauwerks, etwas tiefer gelegen, am Ufer des Flusses Gave, befindet sich der Eingang zur Grotte, wo einst, vor gut 120 Jahren, das Mädchen Bernadette ihre Marienerscheinungen gehabt haben will.

Die Geschichte sprach sich herum und Lourdes wurde schon bald darauf Wallfahrtsort. Auf dem Platz vor der Grotte herrscht reger Betrieb, sollen doch jährlich etwa 4 Millionen Besucher aus aller Herren Länder hierher kommen, sei es aus Neugier, sei es in dem Wunsch von einer schlimmen Krankheit geheilt zu werden. Der ganze Rummel wirkt auf mich leicht befremdlich, ich fühle mich etwas unwohl und werde den Eindruck nicht los, hier etwas deplaziert zu sein, irgendwie nicht dazuzugehören. Nachdenklich geworden, schlendere ich in die Stadt zurück und mache mich dann auf der D 937 in östlicher Richtung davon. 

Nach etwa 10 km wird das Gelände ziemlich hügelig mit einigen deftigen Steigungen bis zu 9 % und ebensolchen Abfahrten. Das Wetter hat sich inzwischen weiter gebessert. Es weht eine enorm steife Brise aus West, die mir, da sie überwiegend von hinten kommt, paradoxerweise sehr entgegen kommt. 

Ab 'Montgaillard' folge ich der D 935 und erreiche so gegen Mittag 'Bagnères de Bigorre'. Vor mir, im Süden, über den Pyrenäen, hängt eine schwere grauschwarze Wolkenbank. Dort liegen aber auch die Pässe 'Col d'Aspin' und 'Col de Payresourde', die ich fest in meine Route eingeplant habe. Ich muss mich entscheiden, entweder ich fahre die Pässe und riskiere dabei nochmals richtig eingeweicht zu werden, oder ich fahre weiter durch die Hügel des nördlichen Pyrenäenvorlandes und bleibe aller Voraussicht nach trocken. Ich bin hin und her gerissen, doch schließlich geben die noch allzu lebendigen Strapazen der vergangenen Tage den Ausschlag. 

Ich verzichte auf die Pässe und radle weiter in östlicher Richtung, jetzt auf der D 938. Der Wind wird immer stärker, bläst aber meist von achtern und treibt mich ordentlich voran. Lange Talfahrten und schweißtreibende Anstiege wechseln sich ab. Ebene Abschnitte sind die Ausnahme. Während ich gerade dabei bin mich an einer schier endlosen Steigung abzumühen, sehe ich in weiter Ferne, hoch oben, einen mächtigen grauen Klotz aus der ansonsten recht lieblichen Landschaft herausragen. 

grauer KlotzGrauer Klotz, 'Chateau de Mauvezin'


Chateau de Mauvezin

Ohnehin schon ziemlich erschöpft, nehme ich die Gelegenheit wahr, wieder mal eine kleine Pause einzulegen und in aller Ruhe mittels Karte und Reiseführer etwas für meine Bildung zu tun. Das die Landschaft dominierende, weithin sichtbare Bauwerk entpuppt sich als das 'Chateau de Mauvezin', ein wehrhaftes Castell, dessen Entstehungsgeschichte bis in gallo-römische Zeit zurückreicht. Seine Glanzzeit erlebte es wohl im Mittelalter, während des 100-jährigen Krieges, unter einem gewissen Gaston Febus, seines Zeichens Vizegraf von Béarn und Graf von Foix. Wegen seiner strategisch günstigen Lage beherrschte die Festung damals die wichtige Verkehrsverbindung von Toulouse nach Bayonne am Atlantik. Der quadratische, 36 m hohe Turm, der 'donjon', diente in erster Linie als Refugium, in das man sich während der damals üblichen und häufig praktizierten, böswilligen Belagerungen, gerne zurückzog. Seine 6 Etagen dienen heute als Museum, und das ganze kann für 10 FF besichtigt werden. 

Stets um die Erweiterung meines geistigen Horizonts bemüht, beschließe ich dieses günstige Angebot wahrzunehmen. Vor dem Eingang, einem kleinen ins Gemäuer eingelassenen Rundbogen, liegt dösend ein Hund. Ein Gebirge von einem Hund, ein Berner Senn. Für einen Moment verlangsame ich meinen Schritt und bleibe in respektvollem Abstand stehen. Doch dann erinnere ich mich an die sprichwörtliche Gutmütigkeit dieser Hunderasse. In der Hoffnung, der Hund sei sich dieser positiven Eigenschaft bewusst, gehe ich mutig auf ihn zu. Er scheint schon mal davon gehört zu haben, denn er begibt sich artig, wenn auch etwas zögernd, auf seine vier kräftigen Pfoten. Dann dehnt und streckt er sich ausgiebig und tritt gemächlich, ohne mich aus den Augen zu lassen, beiseite und lässt mich passieren. 

Das Innere der Burgruine ist etwas ernüchternd und besteht im Wesentlichen aus einer mehr oder weniger gut gepflegten grünen Wiese, begrenzt von den mächtigen, knapp 20 m hohen Außenmauern. In eine der Mauern ist der wuchtige Turm eingelassen. Rechts neben dem Turm befindet sich ein kleiner Kiosk. Er ist Andenkenladen und Kasse zugleich. Das Schiebefenster an der Vorderseite ist zugeschoben, die Kasse nicht besetzt. Insgeheim hoffe ich, dies möge auch so bleiben, denn selbst für nur 10 FF wird hier eindeutig zu wenig geboten. 

Die Mauern sind mit einem teilweise begehbaren Wehrgang ausgestattet. Dort oben, in luftiger Höhe, bietet sich ein beeindruckendes Panorama auf die Landschaft der Baronnies und die Ausläufer der Pyrenäen. An Hand der Karte gelingt es mir sogar, die von Herrn Michelin in seinem Führer besonders erwähnten Gipfel, den 2865 m hohen 'Pic du Midi de Bigorre', den 2831 m hohen 'Arbizon' und den 2339 m hohen 'Pic de Montaigu' eindeutig zu lokalisieren. Die schöne Aussicht stimmt mich versöhnlich, dennoch werde ich versuchen mir das Eintrittsgeld zu sparen, aus purem Sportsgeist, versteht sich. 

Ich steige also die Mauer wieder hinab und strebe schnurstracks dem Ausgang zu, wobei ich mich bemühe, jeglichen Blickkontakt mit dem, im Kiosk eventuell anwesenden Personal zu vermeiden. Unter dem Bogen wartet schon Bernie, der Sennenhund, auf mich. Obwohl er diesmal sitzt, gelingt es ihm spielend den Durchgang zu versperren. Das beunruhigt mich nicht weiter, Bernie weiß schließlich was sich gehört. Doch Bernie rührt sich nicht von der Stelle. Er sieht mich nur durchdringend an, so als wolle er mich hypnotisieren. Da diese Rasse, wie schon erwähnt, an und für sich als sehr gutmütig gilt, versuche ich halblaut verbal auf ihn einzuwirken: "Bernie, verschwinde, ich hab's eilig"! ..... keine Reaktion! Unbeweglich blockiert er beharrlich den Ausgang und stiert mich weiter unverwandt an. Da fällt mir ein, dass Bernie ja wohl eher den französischen Umgangston gewöhnt ist. Ich versuche es noch mal: "Va-t'en, monstre, laisse moi passer!" Diesmal spitzt er, so gut er kann die schlappen Ohren. Er zeigt mir stolz sein tadelloses Gebiss, und seiner Kehle entweicht ein dezentes, aber deutlich vernehmbares Grollen. Einerseits bin ich über dieses unerwartete Verhalten entzückt, beweist es doch, dass mein Französisch so schlecht nicht sein kann, wenn sogar ein Hund es versteht. Andererseits hat so ein kräftiges, gesundes Gebiss irgendwie auch etwas Bedrohliches an sich. 

Berni
Bernie

Vorsichtshalber weiche ich zwei Schritte zurück und überlege angestrengt wie dem Vieh beizukommen sei. Da höre ich hinter mir Jemanden gegen eine Glasscheibe klopfen. Die Kasse ist jetzt besetzt. Ein breitschultriger, untersetzter Typ, er könnte Bernies Bruder sein, winkt mich zu sich heran. Ich weiß, wann ich verloren habe, zücke die Geldbörse und schiebe ihm 10 Francs über den Tresen. Mit dem Eintrittsbillet in der Hand begebe ich mich wieder in Richtung Ausgang. Bernie steht sofort auf, wedelt freudig mit der Rute und begleitet mich noch zum Fahrrad. Dort blickt er mich so treuherzig an, dass ich nicht umhin kann ihn hinterm Ohr zu kraulen und anerkennend auf die Schulter zu klopfen. "Kluger Hund, gut gemacht!" murmle ich verbissen und doch anerkennend durch die Zähne. Er lässt sich das gern gefallen und bedankt sich, wie mir scheint, mit einem breiten Grinsen. Er hat wirklich ein beeindruckendes Gebiss! Ein Prachtstück von einem Hund! 

Inzwischen ist es wieder mal an der Zeit mich nach einer Bleibe für die Nacht umzusehen. In der nächsten größeren Ortschaft an der D 938, es ist 'Barthe de Nest', fällt meine Wahl auf das 'Hotel d'Officier'. Fazit: Ein alles in allem erfreulicher Tag. Schade um die beiden Pässe!

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