2. Etappe, von Parentis-en-Born nach Leon

Sonntag, 8.6.87  

Seit 9 Uhr bin ich wieder unterwegs. Das Wetter ist zunächst noch sehr wechselhaft, in rascher Folge lösen Regenschauer und Sonnenschein einander ab. Immer wieder bin ich gezwungen zur Regenhaut zu greifen. Sie wird mein wichtigstes Kleidungsstück. Doch allmählich setzt sich der Sonnenschein durch. Das Unwetter gestern hat nicht zu übersehende Spuren hinterlassen. Beschädigte Dächer, durch umgeknickte Bäume und abgebrochene Äste blockierte Straßen. Die Feuerwehr hat alle Hände voll zu tun. Eine Regionalzeitung berichtet auf der ersten Seite unter der Schlagzeile "Mini Tornado verwüstet Atlantikküste!" über die Wetteranomalie. Bisher sind fünf Todesopfer und zahlreiche Verletzte zu beklagen. Zehn weitere Personen, Segler, Surfer und Fischer, werden zur Zeit noch vermisst. Die Stromversorgung des gesamten Küstenbereichs war für Stunden lahmgelegt. 

 Relikt
Relikt aus alten Zeiten

Auf der D 46 fahre ich nach Süden, vorbei an malerischen und für die Gegend typischen alten Gehöften. Die Katastrophenberichte der Zeitungen und mein eigenes Orkanerlebnis lassen mich nicht los. Sollte es tatsächlich so etwas wie Schutzengel geben, so war meiner gestern wohl einer harten Bewährungsprobe ausgesetzt. Vor meinem geistigen Auge läuft immer wieder der selbe Film ab. Das unheimliche Pfeifen des herab stürzenden Astes, der dumpfe Einschlag und die überhastete Flucht durch den in Auflösung begriffenen Föhrenwald. Was hätte da nicht alles passieren können? Ich komme ins Grübeln. Versunken in philosophische Betrachtungen über das Schicksal, die Vorsehung und über Gott und die Welt trete ich gleichmäßig in die Pedale. Die reale Welt meiner unmittelbaren Umgebung tritt etwas zurück, ich nehme sie nur noch eingeschränkt wahr. So kommt es wie es kommen muss. Ein schräg die Straße kreuzendes Bahngeleise entgeht meinem sonst so wachsamen Auge, und diese kleine Unachtsamkeit wird augenblicklich und auf der Stelle bestraft. 

Der regennasse Stahl der Eisenbahnschiene verweigert meinem Vorderrad die nötige Haftung, wodurch dieses abrupt seitlich wegrutscht und meinen sofortigen Sturz zur Folge hat. Der schmerzliche Kontakt mit dem harten Asphalt reißt mich jäh aus meinen abgehobenen Gedanken und bringt mich schlagartig in die Wirklichkeit zurück. Instinktiv springe ich auf und ziehe das Rad von der Fahrbahn. Der gesamte Vorgang dauert nur wenige Sekunden. Er wird noch durch das laute Gehupe eines näher kommenden Autos beschleunigt. Im Wiesenstreifen am Straßenrand lecke ich dann meine Wunden und überprüfe besorgt meinen Gesundheitszustand. Die Knochen sind alle heil geblieben, das ist das wichtigste. Ein paar schmerzhafte Hautabschürfungen an Knie und Ellbogen sind schnell verarztet. Ich nehme mir vor, von nun an wieder etwas mehr auf die Straße zu achten. 

In Mimizan beschließe ich einen Abstecher zu dem bekannten Badeort Mimizan-Plage zu unternehmen, um mich in den Wellen des Atlantiks etwas zu erfrischen. Dort angekommen, werde ich von einer ziemlich steifen Brise empfangen. Sie ist mir Erfrischung genug. Außerdem lädt der schwarzgraue, wolkenverhangene Himmel nicht gerade zum Baden ein. Für das Auge des Photographen jedoch bietet die schaurigschöne Gewitterstimmung einen willkommenen Kontrast zu den sonst üblichen Badestrandidyllen der Mimizan Plage Ferienprospekte. 

Gewitterstimmung
Schaurig schöne Gewitterstimmung

Ich muss mich mit dem Fotografieren beeilen, denn schon kündigen heftige Sturmböen das sich nähernde Gewitter an. Erste dicke Tropfen lassen kleine Fontainen aufspritzen und hinterlassen winzige Einschlagkrater im Sand. Die Aufnahmen sind kaum im Kasten, da entlädt sich auch schon ein gewaltiger Wolkenbruch. Ich kann mich gerade noch rechtzeitig in ein nahes Strandcafé retten. Auf der überdachten Terrasse zufrieden im Trockenen sitzend, genehmige ich mir ein kleines Bierchen und genieße gelassen das prasselnde Spektakel. Die Ecke hier am Atlantik scheint mir so eine Art Wetterküche zu sein. Da läuft schon mal was über. 

Wie überall an dieser Küste beginnt auch hier unmittelbar hinter der Düne der Pinienwald. Dort nehme ich, nachdem das Gewitter abgezogen ist, vorübergehend einen der großzügig eingerichtetem Picknickplätze in Besitz und lasse mir das schon bekannte leichte Radlermenu (siehe Etappe 1) schmecken. Es ist inzwischen zwar wieder etwas heller geworden, aber die steife Brise aus Westen lässt keine rechte Gemütlichkeit aufkommen. Auch ein zweites Glas Bordeaux ändert daran nichts. 

Picknick
Picknick 

Schon bald verziehe ich mich deshalb wieder etwas weiter ins Landesinnere nach Mimizan, wo ich dann bei mäßigem Wind über Steuerbord, auf der D 652 meinen Weg nach Süden fortsetze. Über St. Julien, Lit-et-Mixe und St. Girons gelange ich schließlich am späten Nachmittag nach Léon. Der kleine Ort am gleichnamigen Etang gefällt mir, das 'Hotel du Lac' macht einen guten Eindruck, und ich beschließe zu bleiben. Zum Abendessen gibt es 'Confit de Canard', eingelegte Ente, eine regionale Spezialität. Danach unternehme ich noch einen kleinen Spaziergang am See. Auf einer Bank am Ufer sitzend genieße ich im warmen Licht der untergehenden Sonne die friedliche Stimmung am Etang. Wie mag es wohl gestern Abend hier ausgesehen haben?

Hotel du Lac
Abendstimmung am 'Hotel du Lac'

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