14. und letzte Etappe, von Leucate nach Collioure

Sonntag 21. Juni 87 

Ich bin angenehm überrascht! Er ist tatsächlich wiedergekommen! Grinsend steht er vor mir. In der einen Hand hält er einen gut gekühlten Sixpack Kronenbourg 1664, in der anderen einen riesigen Eisbecher. Laurent ist 12 und ein aufgeweckter Bursche. Als ich vor knapp einer Stunde hier auf dem 'Camping Crique de Porteils' ankam, war er sofort zur Stelle und wich mir nicht mehr von der Pelle. Während ich mit dem Aufstellen des Zeltes beschäftigt war, löcherte er mich mit allerlei Fragen nach dem Woher, dem Wie und dem Weshalb meiner Radeltour. Anfangs hatte ich Schwierigkeiten ihn zu verstehen, er redete ziemlich schnell und schlampig und nahm auf mein lückenhaftes Französisch nicht die geringste Rücksicht. Doch langsam gewöhnte ich mich an sein schludriges Kauderwelsch, gab so gut es eben ging Auskunft und schilderte ihm in groben Zügen die Route. 

Collioure, Camping

Es war Mittag, die Sonne stand hoch im Zenit, es war heiß und ich verspürte ein unbändiges Verlangen nach einem kühlen Bier. Des ermüdenten Frage-und-Antwort-Spiels überdrüssig, beauftragte ich schließlich Laurent, mir im 'magazin' des Campingplatzes 'de la bière fraîche' zu besorgen. Er könne sich dafür zur Belohnung ein großes Eis kaufen. Laurent war sofort einverstanden, ich gab ihm Geld, und weg war er! Er blieb ungewöhnlich lange weg. Gedanklich hatte ich das Geld schon abgeschrieben und mich damit abgefunden, mir das Bier selbst holen zu müssen. Umso erfreuter war ich, als er schließlich doch noch auftauchte, mit der Erklärung, der Laden wäre schon geschlossen gewesen und er hätte erst den Verkäufer ausfindig machen und überreden müssen noch etwas herauszurücken. Ich finde das Eis hatte er sich redlich verdient. 

Die heutige Etappe war ein reines Vergnügen. Die 'Tramontane' hatte über Nacht ihren Betrieb eingestellt, die Sonne strahlte von den frühen Morgenstunden an aus einem strahlend blauen Himmel. Es wurde schon bald angenehm warm. Ich folgte immer der Küstenlinie, erst über die kleine D 90 nach 'Le Bacarès' und dann über die D 81 durch die Ferienorte Canet-Plage und St. Cyprien-Plage nach Argelès-Plage. Die bisher brettebene Route wurde nun hügelig. Doch größerer Krafteinsatz blieb mir erspart, denn schon nach etwa einem Kilometer auf der N 114 ging's links ab, unter der Bahnunterführung hindurch zum 'Camping Crique de Porteils.' 

Collioure diente schon Phöniziern und Griechen als Zwischenhafen. Der Hafen 'Cauco Illiberis' wurde seit der Antike von den Zivilisationen rund um das Mittelmeer lebhaft frequentiert. Nach dem Eindringen der Westgoten und der Sarazenen wurde Collioure von den Karolingern befestigt. Im 13. Jahrhundert wird das Château Royal errichtet. Unter den Grafen des Roussillon begann der Aufschwung des kleinen Ortes. Der Handel mit arabischer Wolle und eingesalzenem Fisch, mit Wein und Eisen aus der Region ließ das Städtchen erblühen. Die tiefe Bucht machte Collioure zu einem wichtigen Militärhafen. Noch heute sind die Forts ein unübersehbarer Blickfang. Vom 12. bis zum 17. Jahrhundert wurde der Ort abwechselnd von den Königreichen Aragon, Mallorca und Frankreich annektiert. Durch den Pyrenäenvertrag wurde die Stadt dann im Jahre 1659 endgültig Frankreich zugesprochen.

Vom Campingplatz nach Collioure sind's noch etwa 3 km auf der N 114 in Richtung Spanien. Es gibt auch einen kleinen Fußpfad dorthin. Er schlängelt sich durch die Klippen am Meer entlang und soll bei rauer See nicht ganz ungefährlich sein, weshalb auch seine Benutzung offiziell untersagt ist. Der Platz selbst, ein wildes, mit Bäumen und Büschen bestandenes Terrain liegt direkt am Meer. Das in Terrassen aufgeteilte Gelände fällt zur Steilküste hin leicht ab. Vor dem Abgrund schützen niedrige Steinmauern, die den Blick freigeben auf die schier unendliche, meist im Schönwetterdunst verschwindende Küstenlinie. Das Terrain ist nicht parzelliert, man kann seinen Claim abstecken wo es einem gefällt. In unmittelbarer Nähe meines Miniwigwams führt eine steile Wendeltreppe etwa 8 m nach unten zu einer idyllisch abgeschiedenen kleinen Badebucht. Ein Kleinod, für das allein es sich schon gelohnt hätte, hierher zu radeln. Ich denke, in dieser malerischen Umgebung lässt sich für einige Tage die Last des Müßiggangs einigermaßen ertragen!

Badebucht Camping Crique de Porteiles, Badebucht

Montag 22. Juni 87 

In überschwänglicher Begeisterung für die malerische Bucht direkt vor meiner Haustür, beziehungsweise dem Reißverschluss meines Zeltes, habe ich meiner sensiblen Haut gestern wohl etwas zuviel Sonne zugemutet. Ich ziehe es deshalb vor, mich gegenüber dem Tagesgestirn heute etwas bedeckt zu halten, die Badebucht zu meiden und statt dessen einen kleinen Fußmarsch nach Collioure zu unternehmen. Gleich nach dem Frühstück mache ich mich auf den Weg. Selbstverständlich nehme ich den verbotenen Steig durch die Klippen. Dieser erweist sich als überwiegend gut begehbar, ist an einigen Stellen jedoch etwas ausgesetzt, was ihn bei anbrandender See durchaus gefährlich bis unpassierbar machen könnte. Doch die Brandung verhält sich erfreulich kooperativ und lässt mich wohlbehalten nach knapp einer Stunde in Collioure ankommen. Der Pfad endet an einem kleinen Badestrand unmittelbar hinter einer befestigten Kirche, der 'Église Notre Dame des Anges'. Um dorthin zu gelangen gilt es jedoch zuerst noch die Absperrung, einen ins Meer hinaus gebauten Zaun aus Maschendraht zu überwinden. Es gelingt mir, das Hindernis trockenen Fußes zu umgehen. Meinem Erkundungsdrang steht nun nichts mehr im Wege. 

Kapelle

Über einen Steinwall gelange ich auf eine kleine Felsinsel mit Kapelle. Das Eiland bietet einen guten Überblick auf den 'Port d'Amont', einen der beiden Häfen der Stadt. Links erhebt sich das gewaltige 'Chateaux Royale', es folgt die malerische Altstadt mit der Uferpromenade, dem 'Boulevard du Boramar', und auf der rechten Seite rundet die Festungskirche mit dem zum Glockenturm umfunktioniertem antiken Leuchtturm das Bild ab. Ich flaniere die Promenade auf und ab, vorbei an den verlockenden Restaurants mit den höchste Genüsse verheißenden Speisekarten in den Auslagen. Die Atmosphäre, inmitten dieser malerischen Kulisse ist sehr anheimelnd. Collioure ist mir auf Anhieb ausnehmend sympathisch. "Vachement sympa", wie der kleine Laurent sagen würde! 

Den Malern auf der anderen Seite des kleinen 'Port des Plaisance', unterhalb der Mauern des 'Chateaux Royale', scheint es nicht anders zu ergehen. Ich sehe ihnen eine Weile zu, wie sie sich kunstfertig bemühen das besondere Ambiente des Hafens auf Leinwand zu bannen. Sie wissen sich dabei in der Tradition so berühmter Vorbilder, wie Derain, Braque, Othon, Friesz und Matisse, um nur einige der sogenannten 'fauves', der Wilden, zu nennen, die sich hier zu Beginn des Jahrhunderts mehr oder weniger regelmäßig trafen. Auf dem Boulvard Boramar gibt es ein Lokal dessen mit Gemälden aus dieser Zeit geschmückten Wände hiervon beredtes Zeugnis ablegen. So mancher der hier verewigten Künstler wird wohl seine Zeche mit einem Bild bezahlt haben. 

Schloss

Colioure, Schloss

Dem Kai unterhalb des Schlosses folgend, gelangt man in den zweiten Hafen, den 'Port d'Avall', und in die sogenannte Vorstadt. Auch hier lässt sich wunderbar promenieren, vor dem berückenden Ensemble aus Hafen, Schloss, Altstadt und antikem Leuchtturm. 

Aussicht vom Port d'Avall

Altstadt, Kirche, Leuchtturm

Vom vielen Umherziehen, vom Schauen, Abwägen und Fotografieren bekomme ich nicht nur schwere Beine, sondern auch einen trockenen Hals. Also suche ich mir auf dem 'Boulvard du Boramar' eine kleine Bar und genehmige mir zunächst ein kühles Bier, dann einen Pastis und zuletzt einen kleinen Kaffee. Nebenher mache ich mich schlau über das, was Führer Michelin in Collioure noch für sehenswert hält. 

Das wesentliche habe ich schon gesehen und bereits im Kasten. Was noch fehlt ist die Erkundung der Altstadt, ein Streifzug durchs 'Quartier du Mouré' mit seinen steilen blumengeschmückten Gassen. Was den Blumenschmuck betrifft, so fallen sofort die üppigen, prächtig blauviolett blühenden Spaliere aus Bougainvillea auf. Eine wahre Augenweide! 

Boucainvillea

Aber auch die nicht geringe Anzahl von Malerateliers mit ihren Ausstellungs- und Verkaufsräumen lässt den Bummel nicht langweilig werden. Es ist schon spät am Nachmittag als ich zum Hafen zurückkehre. Ermattet lasse ich mich vor einer Kneipe auf der 'Place du 18 Juin' nieder und bestelle einen kleinen Kaffee. 

Während ich noch darüber nachsinne, was an jenem denkwürdigen 18. Juni*) wohl passiert sein mochte, sticht mir das Filmplakat des schräg gegenüber liegenden Kinos ins Auge. Man gibt 'Jean de Florette', den ersten Teil des Zweiteilers 'Die Wasser der Hügel' von Marcel Pagnol, mit Yves Montand, Gerard Depardieu und Daniel Auteuil in den Hauptrollen. Als Pagnolfan kann ich mir eine solche Gelegenheit nicht entgehen lassen. Für die Abendvorstellung bleibt mir noch genügend Zeit, in einem der Restaurants am Platze den kulinarischen Genüssen der hiesigen Küche zu frönen.

Der Film gefiel mir sehr gut. Ich hatte den Roman vor einiger Zeit sowohl in Deutsch als auch in Französisch regelrecht verschlungen. Die dramatische Handlung der Buchvorlage, die Bauernschläue der extrem hinterfotzig agierenden Hautpersonen waren gut getroffen. Völlig überzeugend kam auch die überwältigende, karge Schönheit der provenzalischen Landschaft zur Geltung. Von den Dialogen bekam ich leider nur die Hälfte mit, sie waren mir meist zu schnell und oft zu sehr genuschelt. Ein besonderes Vergnügen war es, Yves Montand und Daniel Auteuil mal in Französisch mit provenzalischem Akzent zu erleben. Wie gut, dass mir die Handlung bekannt war. Beim Verlassen des Kinos ist es 22 Uhr 45. Der Film dauerte länger als ich gedacht hatte. Ich mache mich auf den Heimweg.

Der bei Tage problemlos begehbare Pfad zeigt nun bei Dunkelheit seine Tücken, besonders dann, wenn der wohlwollend leuchtende Vollmond mal gerade von einer Wolke verdeckt wird. Da heißt es höllisch aufpassen, um nicht in eine der gurgelnden Felsspalten zu treten oder auf dem manchmal nassen glitschigen Fels auszurutschen. Kurz nach Mitternacht erreiche ich unversehrt mein Zelt. 

Dienstag 23. Juni 87 

Ich habe immer noch einen leichten Sonnenbrand und widerstehe deshalb den Verlockungen der campingplatzeigenen Badebucht. Der Sinn steht mir nach Höherem, einer Bergtour zu dem oberhalb von Collioure auf 652 m Höhe errichteten 'Tour Madeloc', einem weithin sichtbaren ehemaligen Signalturm. Es verspricht ein heißer Tag zu werden, deshalb breche ich zeitig, so gegen 9 Uhr auf. Zunächst plage ich mich in mäßig steilen Serpentinen auf der N 114 in Richtung Collioure nach oben. Es ist ziemlich warm und der Teerbelag unter mir beginnt schon weich zu werden. Schweißnass erreiche ich die Stelle wo die D 86 zum Tour Madeloc abzweigt. 

Die Straße befindet sich zwar in einem bedauernswerten Zustand, dafür ist der Verkehr gleich null. Ich gewinne sehr schnell an Höhe, und die Aussicht wird zunehmend spektakulärer. Bald schon ist Collioure nur noch als Anhäufung kleiner roter Dächer auszumachen. 

Tour MadelocRückblick

Zum Tour-MadelocRückblick

Die Straße wird steiler und ich komme ziemlich außer Atem. Ich lege eine kleine Rast ein. In unmittelbarer Nähe führt ein einladender Steig steil noch oben. Der schweißtreibenden Plackerei ohnehin überdrüssig nehme ich die willkommene Gelegenheit zur Abkürzung wahr. Das Fahrrad sperre ich an das Geländer einer Straßenbegrenzung und ab geht's auf Schusters Rappen. 

Rückblick4

In großen Schlägen führt der Pfad schnell nach oben. Die Aussicht wird immer grandioser. Unter mir, die Küstenlinie, ausgebreitet wie auf einer Landkarte. Nach Norden hin die letzten Ausläufer der 'Chaine des Alberes', und anschließend der flache Küstenstrich mit den Badeorten, der sich am Horizont in blauem Dunst auflöst. Direkt unter mir Collioure und weiter im Süden 'Port Vendre'. 

Tour Madeloc Tour Madeloc - (Quelle: https://commons.wikimedia.org/w/index.php?curid=9931518)

Hingerissen von diesem phantastischen Ausblick bleibe ich immer wieder verzückt stehen, kann mich kaum satt sehen, und es dauert eine ganze Weile bis ich endlich den Turm erreiche. Der Turm selbst stellt keine besondere Attraktion dar. Der Weg war das Ziel! Nach einer kurzen Verschnaufpause mache ich mich wieder auf den Rückweg. 

Wieder am Fahrrad angelangt durchfährt mich ein eisiger Schreck. Wo um alles in der Welt ist der verdammte Schlüssel für das Fahrradschloss? Hastig durchsuche ich die Rückentaschen des Trikots. Nichts! Nach einigen Minuten der Ratlosigkeit fällt mir zu meiner großen Erleichterung ein, dass ich ihn, damit ich ihn nur ja nicht verliere, in das Seitenfach der Fototasche gesteckt hatte. 

Die D 86 windet sich bis zur Abzweigung der Stichstraße, die zum Turm hoch führt, steil bergan. Die Straße ist streckenweise so steil, dass ich normalerweise absteigen und schieben würde, doch ein seltsamer Ergeiz, vielleicht so eine Art Höhenrausch, treibt mich voran und lässt mich an die Grenze meiner Leistungsfähigkeit gehen. Als ich den Kulminationspunkt erreiche bin ich völlig fertig, mir ist speiübel. Am Straßenrand liegend brauche ich etwa 10 Minuten um mich zu regenerieren. 

Die nun folgende Abfahrt nach Port-Vendres ist ein unvergessliches Erlebnis. Links, tief unten, das azurblaue, beinahe übergangslos mit dem Horizont verschmelzende Meer, rechts das schroffe überwiegend grüne Bergmassiv und vor mir das schwarze Band einer ab hier gut ausgebauten Bergstraße, die in sanften Windungen abwärts führt. Ich habe das Gefühl zu fliegen und fahre bewusst langsam, einerseits, um den traumhaften Anblick der Landschaft so richtig genießen zu können, und andererseits, um in schierer Begeisterung den Eindruck des Fliegens nicht Wirklichkeit werden zu lassen. 

Die Stadtbesichtigung in 'Port-Vendres' beschränkt sich auf die Gegend um den Hafen. Das Fahrrad schiebend schreite ich pflichtbewusst fotografierend die Kais ab. Wie es sich für den größten Fischereihafen dieses Küstenabschnitts gehört, liegen überall Fischernetze herum. Einer dieser überdimensionalen Haufen liefert mir den idealen Vordergrund für ein, wie ich finde, charakteristisches Foto des Hafens. 

FischernetzeFischernetze

Es wird mir immer ein Rätsel bleiben wie man diese Knäuel jemals wieder entwirren will! Aber vielleicht sind diese Netze ja auch längst außer Betrieb und nur noch für die Touristen da, um ihnen eventuell als Vordergrund für ein idyllisches Hafenfoto zu dienen. 

Port-Vendre

Port-Vendres, Hafen    (Quelle: https://commons.wikimedia.org/wiki/File%3AHarbour_Port_Vendres.jpg)

Der Heimweg auf der N114 war wegen des Verkehrs und der Hitze ziemlich stressig. In der Abgeschiedenheit und friedlichen Ruhe des Campingplatzes lasse ich die Bilder und Eindrücke des Ausflugs vor meinem geistigen Auge noch ein mal Revue passieren. Mir wird klar, dass dies wohl die landschaftlich schönste Bergtour war, die mir bisher beschieden war.

Die Tour auf Google Maps

Mittwoch 24. bis Samstag 27. Juni 87 

Das Wetter bleibt weiterhin schön. Ich verbringe die restlichen Urlaubstage auf dem Campingplatz, meist in der Badebucht, mit viel Lesen und Schwimmen. Am Samstagmorgen radle ich zum Bahnhof, gebe Fahrrad und Gepäck auf und trete die Heimreise an. In Paris nutze ich einen mehrstündigen Aufenthalt für einen kleinen Stadtbummel. Auf den Champs-Élysées treffe ich auf einem Werbeplakat eine alte Bekannte, die sich sonst eher im Louvre aufhält. Spät abends begebe ich mich zum Gare de l'Est und besteige den Nachtzug nach München. Auch die schönste Reise geht einmal zu 

ENDE.

*) 18. Juni 1940, De Gauls Aufruf zum Widerstand gegen die deutsche Besatzung, Gründung der Exilregierung in London, Gedenktag für die Helden und Opfer der Resistance.

Navigation

Google maps