1. Etappe, von Bordeaux nach Parentis-en-Born

Samstag 7.6.87 

Es ist 6 Uhr 30, unausgeschlafen sitze ich im Bahnhofsrestaurant in Bordeaux und frühstücke. Das Geratter des Nachtzugs aus Paris, mit dem ich eben hier angekommen bin, dröhnt mir noch in den Ohren. Ich fühle mich wie gerädert, habe ich doch die Nacht über kaum ein Auge zugetan. Vielleicht wäre es doch besser gewesen mir einen Liegewagenplatz zu leisten. Der heiße, starke Kaffee tut seine Wirkung. Meine Lebensgeister kehren zurück. 

Seit meinem Aufbruch in München bin ich nun, mit einer kurzen Unterbrechung in Paris, etwa 24 Stunden auf Achse und brenne darauf, endlich das Verkehrsmittel zu wechseln. Im Gepäckraum sehe ich schon von weitem meine prallgefüllten, roten Satteltaschen im Regal auf mich warten. Auch das Fahrrad ist nicht weit. Beide Gepäckstücke hatte ich vor einer Woche im Münchener Hauptbahnhof aufgegeben, in der Hoffnung sie hier in Bordeaux unbeschadet wieder auslösen zu können. 

Nach kurzem, nervösem Suchen finde ich zu guter letzt auch noch den Gepäckzettel. Einer Übergabe steht nun nichts mehr im Wege. Die Satteltaschen sind, wenn man von einer feinen grauen Staubschicht absieht, in passablem Zustand. Auch das Fahrrad scheint auf den ersten Blick hin nichts abbekommen zu haben. Während ich es auf den Bahnhofsvorplatz schiebe fällt mir jedoch sofort die Unwucht im Vorderrad auf, die an den Felgenbremsen die bekannten Schleifgeräusche hervorruft. Mittels eines Speichenziehers und durch wohlüberlegtes gefühlvolles Drehen an einigen, hierfür besonders geeignet erscheinenden Speichen, ist schnell Abhilfe geschaffen. Das Rad läuft wieder annähernd rund. Es kann losgehen. 

Die Ausfallsstraße in Richtung Arcachon ist schnell gefunden. Ich komme gut durch den morgendlichen Stoßverkehr und folge der N 250, die schnurgerade durch Kiefernwald in Richtung Südwest führt. Inzwischen fängt es leicht zu regnen an, aber es bleibt warm. Zum Schutz gegen die Nässe von außen ziehe ich das Regenzeug über und beginne nun von innen her feucht zu werden. Nach etwa 20 km decke ich mich in Marcheprime mit Proviant für die Mittagspause ein. Wurst, Käse, Baguette und eine Flasche Wein! Ich habe Mühe das Zeug in den Fahrradtaschen zu verstauen. 

Kiefernwald
 

Auf der D 5, später auf der D 216, radle ich durch das ausgedehnte, hauptsächlich aus Kiefern bestehende Waldgebiet des 'Parc Regional des Landes de Gascogne'. 

Das Departement 'Landes' erstreckt sich von der Girondemündung im Norden bis zur Mündung des Adoure bei Bayonne im Süden. Dazwischen liegen 230 km Atlantikküste, die 'Côte d'Argent', ein immenser Sandstrand, der längste Europas. Seit Urzeiten deponierte hier der Atlantik riesige Mengen feinsten Sandes, jährlich etwa 15 bis 18 Kubikmeter pro Meter Küstenlinie. Dadurch entstanden gewaltige Wanderdünen, die mit einer Geschwindigkeit von 5 bis 25 m pro Jahr ins Landesinnere vordrangen. Sie bedecken heute einen bis zu 5 km breiten Küstenstreifen. Seit dem Mittelalter versuchte man diesem unbändigen Wandertrieb Einhalt zu gebieten. Doch erst gegen Ende des 18. Jahrhunderts gelang es dem Straßenbauingenieur Bremontier die Dünen zu befestigen. Er begann mit Hilfe von Palisaden entlang der gesamten Küste eine künstliche, etwa 10 bis 12 m hohe Düne zu züchten und diese mit Strandhafer, einem niederen Grasgewächs mit dichtem, sich schnell ausbreitendem Wurzelwerk zu bepflanzen. Auf der Leeseite der so befestigten Düne, die eine Barriere zum Hinterland darstellt, wurde eine Mischung aus Ginster- und Piniensamen ausgebracht. Im Verlauf von vier Jahren erreichte der Ginster eine Höhe von zwei Metern. In seinem Schutz konnten die etwas langsamer wachsenden Pinien den ihnen zugedachten kargen, sandigen Lebensraum erobern. Im Jahre 1867 waren die Arbeiten praktisch abgeschlossen. 3000 ha künstlicher Küstendüne waren mit Farn, 80 000 ha Hinterlanddüne mit Pinien bepflanzt und befestigt. 

Zu Beginn des 19. Jahrhunderts wurde dann mit der Sanierung des übrigen Hinterlandes, das sich bis dahin allen Versuchen landwirtschaftlicher Kolonialisierung erfolgreich widersetzt hatte, begonnen. Durch ein ausgeklügeltes System von Drainagen und das Anpflanzen von Pinienwäldern auf einer Fläche von ungefähr 950 000 ha konnte das Land urbar gemacht werden. Das Departement 'Landes' ist heute, nicht zuletzt wegen seiner Holzwirtschaft und der damit verbundenen Industrien, eines der reichsten Frankreichs. 

Drainagen

Gegen Mittag hört es auf zu regnen, die Sonne lässt sich immer öfter blicken und es wird angenehm warm. In einem kleinen Waldweg halte ich Siesta und lege meine feuchte Kleidung auf einem Holzstoß zum trocknen aus. Die Luft ist erfüllt von würzigen Düften nach Holz und Harz. Radfahren macht Appetit. Das leichte Radlermenu aus der Satteltasche ist ebenso einfach wie wohlschmeckend. Es besteht aus frischem Baguette, Butter und Käse.

Brotzeit
Leichte Radlerbrotzeit 

Dazu gibt es ein Glas Bordeauxwein, der vorzüglich mit dem Käse harmoniert. Es spricht für mich und meine außergewöhnliche Willensstärke, dass es bei dem einen Gläschen Wein bleibt. Nach kurzer Rast geht es dann weiter. 

Den 'Etang de Cazaux et de Sanguinet', einen dieser der Küste vorgelagerten Süßwasserseen, lasse ich rechts liegen. Das Gelände ist hier sehr eben und die gut ausgebaute Straße führt durch schier endlos erscheinenden, lichtgrünen Föhrenwald. Es geht flott voran, Radeln macht hier Spaß. Am frühen Nachmittag gelange ich auf der D 46 nach Parentis, einem kleinen Ort am gleichnamigen Etang. Meine körperliche Verfassung ist nicht mehr die Beste und das von der langen Bahnfahrt herrührende Schlafdefizit macht sich nun doch langsam bemerkbar. Kurzerhand erkläre ich Parentis zum heutigen Etappenziel. Das Wetter macht einen nicht unfreundlichen Eindruck. Ich entscheide mich fürs Zelten und den 'Camping des Arbres d'Or', einen wildromantischen Platz in einem Pinienwäldchen mit altem, hohem Baumbestand. Es stehen nur ein paar Caravans herum, kein Zelt. Ich suche mir ein sonniges Plätzchen am Waldrand, errichte das Minizelt und hänge meine feuchten Sachen zum Trocknen in die Sonne. 

Camping des arbres d'or
Camping-Les Arbres d'Or 

Mit mir selbst verfahre ich anschließend ebenso, nur dass ich mich der Einfachheit halber ins Gras lege. Ausgeruht und von der Sonne aufgeheizt steht mir alsbald der Sinn nach einem kühlen Bad. Ich schwinge mich aufs Rad um im nahen Etang noch ein paar Runden zu schwimmen. Dort angekommen stürze ich mich auch sofort in die Fluten. Das Wasser ist wirklich sehr erfrischend, man kann es ohne Übertreibung auch als saukalt bezeichnen. Ich lege mich zum Trocknen an den Strand und genieße die angenehm warme Sonne. Allein der Genuss ist nicht von langer Dauer. Die Sonne zieht sich dezent zurück und ein kühles Lüftchen beginnt den See zu kräuseln. Der Himmel bezieht sich mehr und mehr und im Westen, über dem Atlantic, formiert sich eine bedrohlich aussehende Wolkenfront. Das schwarzgraue, walzenähnliche Gebilde erstreckt sich über den gesamten Horizont und kommt rasch näher. Der Etang passt sich farblich der veränderten Wetterlage an, er ist jetzt olivgrün und auf den sich allmählich aufschaukelnden Wellen zeigen sich erste Schaumkronen. Aus dem kühlen Lüftchen ist inzwischen ein ausgewachsener, böiger Sturm geworden. Mir scheint da braut sich was zusammen. Es ist höchste Zeit zu von hier verschwinden. 

Mini-Tornado
Mini-Tornado

Hurtig schwinge ich mich aufs Rad und strebe, gewaltig strampelnd, dem Campingplatz zu. Der überwiegend von achtern tobende Sturm unterstützt mich dabei, treibt mich schnell voran. Doch von gelegentlichen seitlichen Böen heftig geschüttelt, habe große Mühe mich im Sattel zu halten. Am Zelt angelangt, ich bin gerade dabei in aller Eile die überall herumliegenden und inzwischen getrockneten Kleidungsstücke aufzusammeln und zu verstauen, überschlagen sich dann die Ereignisse. 

Der mittlerweile zum Orkan angewachsene Sturm braust jaulend durch die hohen Baumwipfel. Eine gespenstische, äußerst beunruhigende Situation. Da, plötzlich, in all dem akustischen Tohowabohu, ein schaurig anschwellendes Zischen und Pfeifen von oben, dann ein schwerer dumpfer Einschlag in meiner unmittelbaren Nähe. Ein ausgewachsener armdicker Ast hatte sich von seinem 'Arbre d'Or' gelöst, war in die Tiefe gesaust und hatte mich nur um Haaresbreite verfehlt. Von der Wucht des Aufschlags schwer beeindruckt bin ich zunächst wie gelähmt, brauche einige Zeit, um mir der Gefahr bewusst zu werden, in der ich schwebe. Dann greife ich hastig mit einer Hand nach der Fototasche, mit der anderen nach der zufällig herumliegenden Rotweinflasche und renne, von Panik ergriffen und getrieben von einem unwiderstehlichen Bedürfnis nach Sicherheit, nach vier stabilen Wänden und einem ordentlichen Dach über dem Kopf, davon, in Richtung Waschraum. 

Die knapp einhundert Meter durch den Pinienwald werden zum Horrortrip. Der Orkan bricht nun mit unbeschreiblicher Wucht über das kleine Pinienwäldchen herein. Die Luft ist ein Gemisch aus Regen, Sand, Ästen und Zweigen, Föhrennadeln und -zapfen. Das alles schießt waagrecht aus wechselnden Richtungen auf mich ein. Die Sandkörner wirken wie tausend kleine Nadelstiche auf der ungeschützten Haut, ein mittlerer Ast streift meine rechte Schulter. Dennoch erreiche ich unbeschadet den 'Bloc Sanitaire', eine Oase relativer Ruhe und des Friedens. 

Während draußen die Welt im Chaos zu versinken droht, nehme ich erst mal einen kräftigen Schluck aus der Pulle. Der Wein tut gut, langsam entspanne ich mich und massiere die rechte Schulter, die doch mehr abbekommen hat als ich zunächst dachte. Draußen tobt der Sturm mit unverminderter Wucht noch etwa eine halbe Stunde lang. Dann flaut er etwas ab und es setzt heftiger Dauerregen ein. Mir wird klar, dass ich hier trockenen Fußes nicht mehr weg komme. Also verlasse ich mein Refugium, renne zurück zum Zelt, werfe geschwind das Regenzeug über, ergreife das Fahrrad und radle, gegen Wind und Regen ankämpfend, ins 2 km entfernte Parentis. Da unter den gegebenen Umständen an Campen nicht mehr zu denken ist, quartiere ich mich im 'Hotel du Lac' ein. Nach einem ordentlichen Abendessen bestehend aus Soupe de Poisson, 10 Huitres, Steak grillé, Fromage et Tarte aux Pommes, kehre ich noch mal zum 'Arbres d'Or' zurück um das Zelt und die übrigen Sachen zu holen. Zu meiner Überraschung hat das Zelt das Unwetter gut überstanden, es ist zwar etwas eingefallen, aber das Zeug in seinem Inneren ist halbwegs trocken geblieben. 

Beim Dämmerschoppen im Hotel fällt dann auch noch der Strom aus, und bei Kerzenlicht wird es so richtig gemütlich. In Gedanken lasse ich die Ereignisse des Tages noch einmal Revue passieren. Im Mittelpunkt meiner Betrachtungen steht natürlich der Beinaheknockdown auf dem Campingplatz. Wäre ich im entscheidenden Augenblick auch nur eine Idee anders gestanden, so hätte mich das Geschoss von oben voll getroffen und die Fahrradtour hätte hier ein jähes Ende gefunden. Die folgenden Etappen hätten nie stattgefunden. Das gibt mir zu denken.

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