8. Etappe, von Sisteron nach Moustiers

Freitag 1. Juni 

Das verspricht heute ein heißer Tag zu werden. Ich bin schon früh unterwegs, den bis zu meinem heutigen Etappenziel, einem Campingplatz am 'Lac du Sainte Croix' bei 'Moustiers Sainte Marie', sind es etwa 80 km. Ich habe mich dort mit Freund Rainer verabredet um morgen in den 'Gorge du Verdon' hinabzusteigen. 

Südlich von Sisteron befinde ich mich nun im Departement 'Alpes de Haute Provence', weshalb das Städtchen auch das Tor zur Provence genannt wird. Sisteron stellt außerdem eine klimatische Barriere zur nördlich angrenzenden Dauphiné dar. Die Vegetation wird nun sichtlich provenzalischer. Pappeln, Buchen, Linden, Ebereschen und Weiden prägen das Landschaftsbild. Und eine Etage tiefer finden sich Disteln, Süßgräser, Hülsenfrüchte, Lavendel, Thymian und Rosmarin ein. 

Hinauf nach Espinouse

Auf der D4 radle ich links der Durance über Volonne und l'Escale nach Malijai. Es ist angenehm warm und ich komme gut voran. Die D8 führt dann zunächst in östlicher Richtung im Tal der Bléone eben dahin. Radfahren kann richtig Spaß machen! Nach etwa 6 km biegt die Straße nach Süden ab. Das flotte Pedalieren findet schon bald ein Ende. Etliche Serpentinen mit engen Kehren führen jetzt hinauf nach Espinouse. Der Höhenunterschied beträgt etwa 300 Meter. Streckenweise wird es ziemlich steil, so dass ich wiederholt gezwungen bin zu schieben. Die Sonne steht im Zenit, es ist heiß und der Schweiß rinnt in Strömen! Doch die Bäume wachsen nicht in den Himmel, wo's rauf geht, geht's auch wieder runter. Es folgt eine erholsame Abfahrt von ca. 350 Höhenmetern verteilt auf 10 km über Saint-Jeannet hinab nach Bras-d'Asse. Die Gegend ist sehr dünn besiedelt, die Straße ruhig bis verlassen. Gelegentlich taucht ein Gehöft auf, auch Obstplantagen und Lavendelfelder kommen nun immer häufiger ins Bild.

Die Route auf Google Maps, Abschnitt 1 

Gehöft

Mit der Überquerung des naturbelassenen Flussbetts der Asse, einem Zufluss der Durance, geht es wieder aufwärts. Die D953 führt hinauf zum Plateau de Valensole und nach Puimoisson. Das Plateau wird auch als Kornkammer der Region bezeichnet. Auf einer Fläche von ca. 800 Quadratkilometern wird vorwiegend Lavendel und Getreide angebaut. Mein französischer Reiseführer beschreibt die Gegend als farblich besonders reizvoll. Je nach Jahreszeit präsentiere sich die Landschaft in verschiedenem Gewand. Die schneebedeckten Hügel und die Mandelblüte des Monats März machen im Juli Platz für das blasse Lila des Lavendels und die Goldfarbe der Getreidefelder. Im November kontrastieren der Oker der gepflügten Äcker mit dem reinen Blau des Winterhimmels. 

Lavendelfeld Lavendelfeld (43°52'50,37" N; 6°07'54,08" O)

Moustiers Moustiers Saint Marie 

Am späten Nachmittag erreiche ich Moustiers. Der Campingplatz ist schnell gefunden. Er liegt etwa 5 km außerhalb in Richtung 'Lac de Sainte-Croix'. Das Zelt ist schnell aufgebaut und nach dem Duschen steht mir der Sinn nach einem gepflegten Abendessen. Dazu müsste ich aber nach Moustiers zurück radeln und dabei auch noch einen Anstieg von gut 100 Metern überwinden. Diese Hürde ist mir nach dem anstrengenden Tag einfach zu hoch. Deshalb gibt es wieder mal das bewährte Radlermenü, Salami und Käse an Baguette, begleitet von einem Roten der Region.

Die Route auf Google Maps, Abschnitt 2 

Samstag 2. Juni 1984 

Rainer, Uschi und Sohn Gunnar treffen schon am Vormittag hier ein. Sie sind gestern Abend in München aufgebrochen und die Nacht, bis auf eine kleine Schlafpause in den Morgenstunden, durchgefahren. Man sieht ihnen die lange Reise nicht an. Sie machen einen ziemlich frischen Eindruck. Trotzdem beschließen wir, den heutigen Tag ruhig anzugehen und die Exkursion in die Verdonschlucht erst morgen zu unternehmen. Stattdessen steht für heute die Ortsbesichtigung von Moustiers auf dem Programm. 

Der Ort oberhalb des Lac de Ste-Croix ist einer jener typisch provenzalischen Bilderbuchdörfer. Die dicht gedrängten alten Häuser bilden enge anheimelnde Gassen vor dem Hintergrund steil aufragender kahler Felswände. 

ND de Beauvoir

Oberhalb des Dorfes, am Ausgang einer tiefen Schlucht, nur über einen steilen Kreuzweg zu Fuß zu erreichen, befindet sich die Wallfahrtskapelle 'Notre - Dame - de - Beauvoir'! Und hoch oben, an einem die Schlucht überspannenden Seil hängend, quasi als Wahrzeichen des Ortes, der 5-zackige vergoldete Stern! Er soll, so eine Legende aus dem 10. Jahrhundert, von einem Ritter namens Bozon de Placas gestiftet worden sein. Anlässlich eines Kreuzzuges in Gefangenschaft der Sarazenen geraten, soll dieser tapfere Krieger, für den Fall seines Überlebens, sich zu dieser Stiftung verpflichtet haben. Die Geschichte wurde nicht zuletzt auch von dem Poeten der Provence, Frederic Mistral, aufgenommen und publiziert. Der heute dort oben hängende Stern stammt aber nicht aus dieser Zeit. Er dürfte etliche Vorgänger haben. 


Über den Dächern von Moustiers 

Süßens beim Abendessen Camping Mustiers, Abendessen 

Unter den wachsamen Augen einer treuen Gefolgschaft wird ein mehrgängiges Menue zelebriert. Und hin und wieder springt schon mal ein Knochen vom Teller!

Moustiers, Sonntag 3. Juni 1984 

Der 21 km lange und bis zu 700 m tiefe Gorge du Verdon ist einer der größten Canyons Europas. Die malerische, wild-romantische Schlucht des Verdons beginnt flussabwärts nach der Stadt Castellane und endet nahe Moustiers-Sainte-Marie im Lac de Sainte-Croix, einem im Jahre 1973 angestauten See. An dessen Stelle befand sich bis dahin die Ortschaft 'Les-Salles-sur-Verdon', die nach dem Bau der Staumauer völlig abgerissen und 400 m weiter, an höher gelegener Stelle neu errichtet wurde. Einige der Bewohner leisteten bis zuletzt erbitterten Widerstand und blieben in ihren Häusern bis sie nasse Füße bekamen. Aus dem alten Dorf wurden lediglich die Kirchturmuhr, die Dorfglocke und der alte Dorfbrunnen demontiert und in der neuen Ortschaft wieder aufgebaut. Der Stausee, der zweitgrößte Frankreichs, nach dem 'Lac de Serre-Ponçon', dient vornehmlich der Stromerzeugung sowie der Wasserversorgung der Region. 

Es ist schwülwarm, trotz der frühen Stunde. Die Quecksilbersäule des Thermometers schickt sich an die 30°-Marke zu erklimmen. Wir brechen gleich nach dem Frühstück auf, verlassen den Campingplatz in Richtung Gorge du Verdon. Rainers fahrbarer Untersatz gibt sein Bestes uns zur 'Corniche Sublime' hochzuhieven. Es sind immerhin ca. 600 Höhenmeter auf der D71, verteilt auf mehrere Serpentinen. Wir überholen immer wieder Radfahrer die sich an den meist 10%-igen Steigungen abmühen. Ich leide mit ihnen und genieße umso mehr die Annehmlichkeit bequem und entspannt nach oben befördert zu werden. Mehrere Aussichtsplattformen bieten einen freien Blick in die einzigartige Schlucht. 

GdV Gorge du Verdon 

Um die Verdonschlucht wandernd zu erkunden bieten französische Wanderführer mehrere Möglichkeiten unterschiedlicher Schwierigkeitsgrade. Wir haben uns für den 'Sentier de l'Imbut' entschieden. Die Route weist einen Höhenunterschied von 600 m auf und rangiert im Schwierigkeitsranking ganz oben bei D5 (difficile, pour des spécialistes). Mit dem vagen Gefühl, uns eventuell hierbei etwas übernommen zu haben, machen wir uns auf den Weg. Ausgangspunkt ist der Parkplatz der 'Auberge des Cavalliers'. Der gewundene Pfad führt schnell nach unten ins Bett des Verdon. Der Fluss führt Hochwasser und empfängt uns in der engen Schlucht mit brausendem Getöse. Wir wenden uns nach links, flussabwärts, und erreichen schon bald eine kleine Brücke, die 'Passerelle d'Estalier'. Auffällig ist der besonders massive Brückenpfeiler. Die gewaltigen Wassermassen, denen er momentan standhalten muss, machen deutlich, dass bei der Dimensionierung des Pfeilers nicht übertrieben wurde. Dennoch wurde die Brücke 10 Jahre später durch das gewaltige Jahrhunderthochwasser im Jahre 1994 völlig zerstört. Heute überspannt an dieser Stelle eine freitragende Fachwerkskonstruktion aus Metall den Fluss. 

Passerelle Passerelle

Der oft ausgesetzte Pfad folgt nun etwa 4 km immer in unmittelbarer Nähe dem Lauf des Flusses, mal etwas erhöht, mal ganz unten. Kletterpartien über glitschigen Fels wechseln sich ab mit in die Felswände geschlagenen Passagen. Uschi und Gunnar werfen schon bald das Handtuch und kehren um. Das Ganze ist doch wohl eher was für hartgesottene Kerle! 

Irgendwann kommen wir an eine Stelle wo der Weg in den milchig trüben Fluten verschwindet um nach ca. 10 Metern wieder aufzutauchen. Da gibt es nur eins: Hose hochkrempeln und durch! Die Wassertiefe lässt sich schwer abschätzen. So waten wir denn, vorsichtig den Untergrund abtastend, durch knietiefes, gurgelndes Gewässer. An anderer Stelle gilt es eine tiefe Gumpe zu überwinden. Dazu müssen wir uns an Sicherungsseilen eine senkrechte Felswand entlang hangeln. Wo kein Weg ist, da ist ein Seil! Das Ganze mutet sehr abenteuerlich an und ist auch nicht ganz ungefährlich, dennoch übt der damit verbundene Nervenkitzel einen unwiderstehlichen Reiz aus. Belohnt werden wir zudem reichlich mit spektakulären Ausblicken in die urtümliche wilde Schlucht.

Schließlich erreichen wir das 'Chaos de l'imbut' *), eine Anhäufung chaotisch durcheinander gewürfelter Felsbrocken. Hier endet der Weg und der Verdon verschwindet in einer engen Spalte zwischen steil aufragenden Felswänden. 

*) Imbut, kommt von embut, provenzalisch für Trichter, Ausguss, Siphon.

l'imbut

Dieses beeindruckende Naturschauspiel lässt uns so schnell nicht los. Wir legen eine längere Rast ein und bewundern die chaotische Umgebung. Sowas hat man schließlich nicht alle Tage! Zurück nehmen wir den selben Weg, den wir gekommen sind. Er endet mit dem steilen Ausstieg aus der Schlucht und geht an die Substanz, raubt die letzten Kraftreserven. Wieder am Auto angelangt, wir sind alle noch etwas außer Atem, da greift Rainer in die Tiefen des Kofferraums seines Autos und fördert eine Flasche Cognac zu Tage. Das hebt die allgemeine Stimmung kolossal und lässt die Mühen des Aufstiegs schnell vergessen. Es gibt Momente im Leben, da ist der Genuss von 'sonnengereiftem', lauwarmen Cognac aus Plastikbechern durch nichts zu toppen. Der krönende Abschluss einer außergewöhnlichen Wanderung!

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