2. Etappe, von Saint Blaise nach La Biolle

Freitag 25. Mai 1984 

Im Hotel Rey gab es heute Morgen ein reichhaltiges, gut sortiertes Buffet, an dem ich mich, hart an der Grenze zur Unverschämtheit bediene. Träge mache ich mich so gegen 10 Uhr ohne übertriebene Eile auf den Weg. Erfreulicherweise geht es erst einmal ca. 13 km bis Bonlieu überwiegend bergab. Das Gefälle beträgt ca. 460 Höhenmeter, eine willkommene Entschädigung für die kräftezehrende Schufterei beim gestrigen Anstieg hinauf zum Col de Mont Sion. Während ich noch lustvoll mit 'downhillen' (engl. für runterfahren) beschäftigt bin, den lauen Fahrtwind genieße und hin und wieder aus purer Lebensfreude einen Juchzer (alpenländisch: Urform des Jodlers) ausstoße, ahne ich noch nichts von der unheilträchtigen Lage in die ich bald geraten sollte. 

Auf einer abschüssigen Dorfstraße, in einer leichten Linkskurve, geschah es dann. Ein Happening der besonderen Art, das meinen Adrenalinspiegel schlagartig von 0 auf 100 steigen ließ, nahm seinen Lauf. Aus einer Hofeinfahrt links der Straße kommt urplötzlich, einem schwarzen Schatten gleich, ein zotteliger Hund im XXL-Format auf mich zugestürmt. Laut und angriffslustig bellend hat das Tier es offensichtlich auf meine Waden abgesehen. Es kommt diesen bedenklich nahe, so nahe, dass ich schon den heißen, keuchenden Atem des Köters zu spüren glaube. Instinktiv ziehe ich die Beine hoch und versuche durch wiederholtes, ermahnendes "Pfui"-Rufen, der Bestie klar zu machen, dass meine Waden nicht in ihr Beuteschema passen. Doch meine Belehrungen bleiben wirkungslos, der Kläffer zeigt sich wenig beeindruckt. Er ist offenbar anderer Meinung. Möglicherweise versteht er auch das deutsche "pfui" nicht so recht. Da mir die französische Entsprechung nicht bekannt ist, versuche ich es in meiner Not mit einem international verständlichen, kräftigen Fußtritt. Mit mäßigem Erfolg! Der Wadenbeißer weicht geschickt aus, stutzt einen Moment, jault kurz auf, nur um dann umso heftiger sein aggressives Gekläffe fortzusetzen. Abgelenkt durch die jähe Attacke weiche ich instinktiv nach rechts aus. Dabei komme ich deutlich von der Straße ab und bin auf bestem Wege im Straßengraben zu landen. Der mit allerlei Geäst gefüllte Graben ist ziemlich tief und übt eine magische Anziehungskraft auf das Fahrrad aus. Ich spüre wie sich mir alle Nackenhaare aufstellen. Nur mit größter Mühe gelingt es mir, ohne das Rad zu übersteuern, wieder auf den Asphalt zurückzukehren und vorsichtig mit gefühlvoller Gewichtsverlagerung in Richtung Straßenmitte zu lenken. "Uff" das war knapp! Der dumme Hund rennt immer noch laut bellend hinter mir her, kann aber die Geschwindigkeit nicht halten, fällt zurück und gibt schließlich auf.

Obwohl der ganze Vorgang nur wenige Sekunden dauerte, steckt mir der Schreck noch eine Weile in allen Gliedern. Die Vorstellung, mit 35 km/h unsanft in einen Straßengraben zu stürzen hat etwas Albtraumhaftes und will mir so schnell nicht aus dem Kopf. Der weitere Verlauf der Reise gestaltet sich dann völlig unspektakulär. In der lieblichen, leicht hügeligen Landschaft gleite ich über verkehrsarme Straßen dahin. Am frühen Nachmittag komme ich nach ‚La Biolle‘, wo ich beschließe mein heutiges Etappenziel erreicht zu haben. Das Wetter ist prächtig und einen Campingplatz nebst Restaurant gibt es auch. Was will man mehr?

La Biolle1
La Biolle, Campingplatz

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