8. Etappe, von Malbuisson nach Louhans

(Koordinaten des Zielorts: Michelin Karte 70: 51.82° Nord, 3.20° Ost)

Samstag 31.5.86

Aufbruch: 9.00 Uhr; Temperatur: nahe dem Gefrierpunkt! Ich radle mal wieder in Trainingsanzug und Anorak. Der Himmel sieht furchterregend aus. So, als ob jeden Moment ein Schneesturm losbrechen, ein Unwetter niedergehen oder der Weltuntergang bevorstehen würde.

Doubs
Der Doubs

Seltsamerweise geschieht nichts von alledem. Es bleibt trocken, wenn auch kalt. Ich folge der D437 entlang des Doubs durch saftig grünes Weideland. Der Fluss ist hier, so nahe der Quelle, noch sehr jung und ist eher ein kümmerliches mäanderndes Rinnsal. Nichts verrät, dass er bis zu seiner Mündung in die Saône immerhin 430 km zurücklegen wird. Das durch die blaugrauen Wolken schimmernde fahle Tageslicht lässt seine Windungen, gleich einem silbernen Band, aus dem satten Grün der Wiesen hervortreten. Für einen, den Unbilden der Natur schutzlos ausgelieferten Radler ein schaurig schöner, ziemlich beunruhigender Anblick. Das insgesamt leicht ansteigende Gelände ist recht hügelig. Trotzdem komme ich gut voran. So gut, dass ich auf den geplanten Abstecher zur Doubsquelle in der Nähe von Mouthe verzichte.

Den mit 1000 m höchsten Punkt der heutigen Etappe erreiche ich in Chaux Neuf. Von nun an geht's überwiegend bergab. In Foncine-le-Bas verlasse ich die D437 und folge der D127 über Chaux-des-Crotenay nach Pont-de-la-Chaux, dann der D75 nach Frasnois.

Bar
Die Bar ist eröffnet

Radeln macht hungrig. Ich sehe mich nach einem geeigneten Plätzchen für die Mittagspause um. Über einen morastigen Pfad gelange ich an das Ufer eines kleinen Sees. Ein herumliegender Baumstumpf ist schnell aufgerichtet und so zum Stehtisch umfunktioniert. Es gibt Salami an Baguette mit Butter. Abgerundet wird das frugale Mahl durch einen 84-er Monbazillac blanc, den Rest von gestern Abend, der mir eigentlich viel zu süß ist. Beim Versuch diese Idylle festzuhalten versagt der Fotoapparat gleich nach den ersten Aufnahmen. Er verlangt nach neuen Batterien und tut dies durch aufgeregtes Blinken der dafür zuständigen Kontrollanzeige kund. Ich werde mir im nächsten größeren Ort neue besorgen, vielleicht in Lons-le-Saunier. Laut Karte steht mir bis dorthin eine flotte Juraabfahrt mit etwa 450 Höhenmetern bevor. Die Vorfreude hierauf und das für eine ausgiebige Siesta ungeeignete Wetter lassen mich schon bald wieder aufbrechen.

Straßenführung und Gefälle erlauben es, nahezu ungebremst talwärts zu schießen. Ein reines Vergnügen! Der steife Fahrtwind und die vorbeisausende Landschaft lassen den Adrenalinspiegel steigen. Ich gerate in Ekstase. Fliegen kann nicht schöner sein!

Ein kleiner Lieferwagen, ein Citroen 2CV, - so eine Ente mit Rucksack - setzt zum Überholen an. Am Steuer eine Person in weißem Kopftuch. Das Gesicht ist nicht zu erkennen, nur eine spitze Nase ragt über den Rand des Tuches hinaus. Ich schenke dem Ganzen wenig Beachtung, bin ausschließlich darauf bedacht möglichst viel Geschwindigkeit aufzunehmen und ducke mich dabei tief über den Lenker. Der Tacho zeigt 48 km/h. Tendenz: steigend! Doch der Geschwindigkeitsrausch soll nicht von langer Dauer sein. Er weicht jäher Ernüchterung! Kaum ist die Ente nämlich an mir vorbei, da zieht sie auch schon scharf nach rechts. Ich denke mich laust ein ganzer Affenclan! Geistesgegenwärtig greife ich in die Bremsen, weiche vorsichtig nach rechts aus und entgehe nur äußerst knapp einer Katastrophe. Der Abstand wächst. Ich atme tief durch. Der Wagen fährt nun etwa zehn Meter vor mir. Da, plötzlich, beginnt er abrupt zu bremsen. Sein Heck kommt rasend schnell näher. Der Schreck fährt mir erneut in alle Glieder. Für rationales Handeln oder gar langatmige Verwünschungen ist keine Zeit. Selbst die übliche Schrecksekunde kann ich mir nicht leisten. Ohne zu überlegen steuere ich intuitiv nach links, in der Hoffnung irgendwie an der Kiste vorbeizukommen. Doch, ich kann es nicht fassen, die verflixte Blechlaube fährt nun ebenfalls nach links. Ein kalter Schauer läuft mir über den Rücken, das wird eng, sehr, sehr eng. Starr vor Entsetzen greife ich nun voll in die Bremsen. Gleichzeitig versuche ich durch extreme Gewichtsverlagerung noch weiter nach links auszuweichen. Ich komme ins Schleudern. Um Haaresbreite schlittere ich am zerbeulten Heck der Ente vorbei, schieße quer über die Gegenfahrbahn, gerate in bedenkliche Nähe des Straßengrabens und komme endlich mit zitternden Knien zum Stehen. Empört wende ich mich um und will sogleich meinem Groll Luft machen. Doch da sehe ich den Lieferwagen, gemächlich als wäre nichts geschehen, rechts in einen Feldweg hinein schaukeln und kurz darauf hinter einer Heckenreihe verschwinden. Ich bin frustriert, brauche einige Zeit, um mich angesichts von soviel Ignoranz zu beruhigen. Am Straßenrand sitzend muss ich das Geschehene erst einmal verdauen. Doch je länger ich so dasitze, desto utopischer, irrealer erscheint mir dieser gespenstische Zwischenfall. Es kann sich hier nur um eine Fiktion, einen schlechten Traum handeln. Es ist als hätte ich in einem billigen Horrorfilm die Hauptrolle gespielt und eben so etwas wie eine 'Unheimliche Begegnung der 3. Art' erlebt. Doch extraterrestrische Besucher in weißen Kopftüchern? Warum nicht?!

Nachdenklich geworden setze ich die Abfahrt auf der D39 fort. Die Gegend ist landschaftlich sehr reizvoll. Langsam bessert sich auch das Wetter und mit ihm meine Stimmung. Über Doucier, Châtillon und Vevy erreiche ich am späten Nachmittag Lons-le-Saunier. In einem Fotoladen erwerbe ich zwei Minizellen für die Kamera. Obwohl ich heute schon 90 km hinter mir habe, fühle ich mich noch recht fit und beschließe, zumal die Sonne sich jetzt immer öfter blicken lässt, noch 27 km bis Louhans dranzuhängen.

Es ist schon ziemlich spät, als ich auf der N78 von Beaurepaire kommend dort eintreffe. Auf einem sehr ruhigem, menschenleeren Campingplatz errichte ich eilig das Superleicht-Minizelt. Die Rezeption ist unbesetzt, doch das stört mich nicht weiter. Ich bin hungrig wie ein Wolf und freue mich schon auf ein gepflegtes Abendessen.

Das 'Cheval Rouge' erweist sich in dieser Hinsicht als sehr empfehlenswert. Es wird ein ausgedehntes Mahl. Ziemlich spät kehre ich, mit mir und der Welt zufrieden, zum Campingplatz zurück. Verwundert stelle ich fest, dass der Platz völlig unbeleuchtet ist. Im bleichen Licht des Vollmonds gelingt es mir dennoch, nach kurzem Suchen, das Minizelt wiederzufinden. Energiesparen mag ja sehr vernünftig sein, man kann es aber auch übertreiben.

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