20. Etappe, von Bordeaux nach Arcachon

Freitag 13. Juni 

Geschafft! Es ist vollbracht! Eintausendvierhundertundsiebzig Kilometer Fahrradreise, über gute und weniger gute Straßen, bei Regen und Schnee und bitterer Kälte, aber auch bei Sonnenschein und sengender Hitze, liegen hinter mir. Mit stolzgeschwellter Brust ziehe ich in Arcachon ein. Zu beiden Seiten des 'Boulevard de la Plage' ein Spalier jubelnder und Fähnchen schwingender Einwohner! Die Kinder haben schulfrei! Es herrscht Volksfeststimmung! Zu meiner Begrüßung ist der gesamte Stadtrat angetreten. Der Bürgermeister hält eine ergreifende Lobesrede und eine Musikkapelle spielt mit Bravour den Triumphmarsch aus Aida. 

So oder so ähnlich habe ich mir meine Ankunft hier immer vorgestellt. Stattdessen radle ich nun bescheiden, einen Campingplatz suchend und von der Öffentlichkeit völlig unbemerkt, durch kaum bevölkerte Kleinstadtstraßen. Wunsch und Wirklichkeit sind gegenwärtig mal wieder Welten voneinander entfernt. Trotzdem ist das Gefühl, endlich angekommen zu sein, ein überwältigendes. 

Dabei begann der Tag eher nüchtern, und das im wörtlichen Sinne. Ich hatte mich eben fünf Stockwerke tief nach unten gearbeitet und betrat zuversichtlich die kleine Räumlichkeit, die ich für das Frühstückszimmer hielt. Statt eines reichhaltigen Büffets empfing mich gähnende Leere, aufgelockert durch ein paar vergammelte Plastikstühle und mehrere kleine runde Tische, die nach dem Zufallsprinzip über den ganzen Raum verstreut waren. An der Rezeption erfuhr ich dann, dass ein Frühstück nicht vorgesehen sei, man mir aber gegen Aufpreis ausnahmsweise ein solches bereiten würde. Dankend lehnte ich ab. Nicht zum ersten Mal kam mir der Gedanke, dass mit diesem Hotel irgendetwas nicht stimmte. Ich hatte eine ziemlich unruhige Nacht hinter mir. Immer wieder wurde ich durch knarrende Geräusche im Treppenhaus aus dem Schlaf gerissen. Ein ständiges Kommen und Gehen, treppauf, treppab! Unausgeschlafen und hungrig machte ich mich davon. Ohne ordentliches Frühstück mit reichlich Kaffee, bin ich morgens kaum zu gebrauchen. In einem kleinen Straßencafe genehmigte ich mir deshalb ein reichhaltiges, typisch unfranzösisches Frühstück. Inmitten des morgendlichen Stossverkehrs überkam mich dann die Erleuchtung, und es fiel mir wie Schuppen von den Augen. Ich hatte in einer Absteige, einem Stundenhotel genächtigt! Alles fügte sich plötzlich zusammen, der eigenartige Empfang gestern Nachmittag, die Unterbringung weitab vom Schuss, unmittelbar unterm Dach, die nächtliche Geräuschkulisse und, was mich wirklich unangenehm berührte, das fehlende Frühstück. 

Ich verließ Bordeaux auf der N250, der großen Ausfallstraße nach Arcachon. Sie verläuft schnurgerade durch den 'Parc Regional des Landes de Cascogne' zum Bassin d'Arcachon. Das Gelände ist bretteben, die breite Straße führt durch hohen lichten Pinienwald! Das Wetter war tadellos und ich kam gut voran. Bei 'Marcheprime' legte ich im Wald noch eine kurze Mittagspause ein und erreichte dann so gegen 14 Uhr 'Facture'. Eine Stunde später war es dann endlich soweit, der große Augenblick war gekommen! Ich passierte das Ortsschild von Arcachon. Ich hatte mein Ziel erreicht. 

Camping 'Les Abatilles'Arcachon, Camping Municipal 

Der Camping Municipal, 'Les Abatilles', ist ein wildes, lichtdurchflutetes Terrain mit kargem Baumbestand. Weit und breit bin ich wieder einmal der einzige Gast. Die Zeltnägel lassen sich mit bloßer Hand spielend in den weichen Sandboden drücken. Deshalb halten sie auch nicht, und ich muss immer wieder nachspannen. Überall wächst Strandhafer, jenes unverwüstliche Wildgetreide, das sich mit seinen Widerhaken in kürzester Zeit in der gesamten Kleidung festsetzt und besonders aus Wollsachen kaum noch herauszubekommen ist. Es ist herrlich warm, das Meer nicht weit, und seine kühlen Fluten ziehen mich magisch an. 

ArcachonArcachon

Die begehrte Abkühlung ist jedoch nicht sogleich zu bekommen. Der Atlantik hat sich momentan unter dem Einfluss des Mondes etwas zurückgezogen. Ich muss ihm gut 150 Meter weit durch knietiefes mit Seetang garniertes Wasser folgen, um endlich schwimmen zu können. Das Wasser ist etwa 4 cm! kalt. Die Temperatureinheit 'cm' mag nicht allgemein geläufig sein, doch sie ist sehr anschaulich und Eingeweihte werden mir zustimmen, dass der Wert 4 auf dieser Skala nahezu den absoluten Tiefststand darstellt. Das Badevergnügen ist deshalb auch nur von kurzer Dauer. Ich plansche noch ein wenig in der Brandung und trete dann kurz vor dem Erfrieren eilig den Rückweg an. Das kalte Wasser verursacht ein angenehmes Prickeln auf der Haut. Ich liege faul im warmen Sand und die Sonne tut ihr Bestes mich langsam wieder aufzutauen. 

AtlantikAtlantik

Zum Abendessen mache ich mich wie immer außergewöhnlich stadtfein. Das heißt, ich trage ein Polohemd, das besonders knitterfrei gefaltet und nur für diesen Zweck reserviert ist. Das Studium der Speisekarten vor den Restaurants gestaltet sich äußerst langwierig. Ich finde nichts, was meinen Gaumen besonders reizen würde. Die Küche hier an der Küste ist eindeutig fischdominiert. Mir ist aber mehr nach Fleisch zu Mute. Außerdem will ich heute, zur Feier des Tages, und ohne Ansehen des Preises ein bisschen schlemmen. Nach langem hin und her, entscheide ich mich für ein gut besuchtes, gastronomisches Lokal, in dem ich gerade noch Platz bekomme. Das ist immer ein gutes Zeichen. Die Speisekarte bietet hier neben einer Menge Fischgerichte auch einige Speisen, die nicht aus Fisch zu bestehen scheinen. Ich wähle ein Menu mit dem Hautgericht 'Filet Juliette', und stelle mir darunter ein saftiges Rinderfilet in einer raffinieren Senfsauce mit grünem Pfeffer vor, das der Küchenchef besonders hervorheben will, indem er ihm den Namen seiner Frau oder Freundin verlieh. Dieser Illusion kann ich mich noch zwei Vorspeisen lang hingeben, dann wird mir, wie kann es auch anders sein, Fisch serviert. 

Am nächsten Tag unternehme ich eine Exkursion zur Düne Pilat. Sie befindet sich etwa 7 km südlich von Arcachon. Der Weg führt über weite Strecken direkt am Meer entlang und bietet schon aus der Ferne einen freien Blick auf den gigantischen weißen Sandhaufen. 

Düne PilatWanderdune Pilat, gigantischer weißer Sandhaufen

Am Fuß der Düne angelangt, sperre ich das Fahrrad an einem Baum und mache mich dann über eine Treppe mit 190 Stufen auf den Weg nach oben. Die Düne ist 114 Meter hoch, es ist ziemlich heiß und der Aufstieg entsprechend anstrengend. Belohnt werde ich durch einen herrlichen Ausblick auf die Landzunge des Cap Ferret, das Bassin d'Arcachon und die immensen Föhrenwälder der Küstenregion. 

Es ist ungewöhnlich hell hier oben, das Sonnenlicht wird durch die weißen Sandflächen total reflektiert und dadurch in seiner gleißenden Wirkung unangenehm verstärkt. Über den langgezogenen Kamm der Düne weht beständig eine leichte Brise feinen Sand von Luv nach Lee. 

Wanderdüne PilatLee, die dem Wind abgewante Seite

Bei einer Länge von 2700 Metern und einer Breite von 500 Metern ist die Pilat mit 60 Millionen Kubikmetern Sand die größte Düne Europas. Das war nicht immer so. Sie ist eine noch relativ junge Formation. Im Jahre 1855 war sie erst 35 m hoch. Sie ist also seitdem im Mittel um 0,6 Meter pro Jahr gewachsen. Die gigantische Sandmenge stammt von einer ausgedehnten Sandbank, die im 18. Jahrhundert der hiesigen Küste vorgelagert war und im Laufe der Zeit vom Wind abgetragen wurde. In geringerem Maße ist dieses Wachstum immer noch im Gange. Gespeist wird der Vorgang heutzutage vom Sand der 'Banc d'Arguin' einer in der Einfahrt zum Bassin gelegenen Sandbank. Die höchste Düne der Welt liegt übrigens in Algerien. Sie ist 430 Meter hoch. Das grandiose Naturerlebnis wird durch einige hässliche Überbleibsel aus dem zweiten Weltkrieg etwas getrübt. 

Bunker

Werbeträger 

Es sind dies die Betonbunker, erbaut von der großdeutschen Naziwehrmacht zur Abwehr der Alliierten, deren Landung man auch hier erwartete. Glücklicher weise sind diese Zeugen deutscher Großmannssucht auf Sand gebaut und nun alle auf dem Weg ins Meer. Der erste ist bereits unten angekommen. Angetrieben von den atlantischen Westwinden wandert die Düne mit einer Geschwindigkeit von ca. 4 Metern pro Jahr ins Landesinnere und ist nicht gewillt die schweren Betonklötze mitzunehmen. Sie bewegt sich einfach unter ihnen hindurch. Überschlägig gerechnet und konstante Geschwindigkeit vorausgesetzt müsste sie seit 1945 etwa 160 Meter zurückgelegt haben. Das hieße der unterste der Bunker wäre damals knapp unterhalb des Dünenkamms errichtet worden. Die Franzosen scheinen das Ganze recht gelassen hinzunehmen. Die Beseitigung der deutschen Hinterlassenschaft wäre sicher sehr aufwendig und teuer, als drastisches Mahnmal gegen den Krieg dient sie allemal, außerdem ist sie in geringem Maße sogar als Werbeträger zu gebrauchen. Ich bleibe noch 2 Tage hier, unternehme eine ausgiebige Stadtbesichtigung und fröne ansonsten dem Müßiggang. Ich verbringe viel Zeit mit lesen, Marcel Pagnol, 'L'eau des Collines', unternehme kürzere Spaziergänge am Strand und verschaffe mir hin und wieder einen Eisschock in den Fluten des Atlantiks. So vergeht die Zeit wie im Fluge und es kommt der Tag der Rückreise. Im Morgengrauen radle ich zum Bahnhof, gebe Fahrrad und Satteltasche am Gepäckschalter auf und besteige dann den Fernzug nach Paris. Dort angekommen bleibt noch etwas Zeit für einen kleinen Stadtbummel. Auf den 'Champs-Élysées' leiste ich mir im Trubel der schönsten Stadt der Welt noch ein sündhaft teueres Bierchen, während im Triumphbogen langsam die Sonne untergeht. 

Arc de Triomphe

Paris, Arc de Triomphe 

Die Metro bringt mich zum 'Gare de l'Est'. Auch die schönste Reise geht einmal zu 

ENDE

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