19. Etappe, von St. Emilion nach Bordeaux

Donnerstag 12. Juni 

Dem Ziel so nahe radelt es sich schon sehr viel leichter. Bis Bordeaux sind es noch ungefähr 60 km und bis Arcachon etwa noch mal so viel. Es geht mir wie dem sprichwörtlichen Kamel, das die Oase wittert. Die Luft ist klar und würzig, und irgendwie riecht es nach Atlantik. Das gibt Auftrieb. Leichtfüßig erklimme ich die 100 Höhenmeter nach St. Emilion, mache dort noch ein paar Aufnahmen und brause dann auf der D122 in südlicher Richtung davon. Bei 'Branne la Hage' überquere ich die Dordogne, die unter mir träge ihre gelbbraunen Fluten westwärts wälzt. Der Verkehr auf der D936 ist ziemlich übel und von Schwerlastern dominiert. Dennoch will ich nicht von ihr lassen, führt sie doch geradewegs nach Bordeaux hinein. Abweichend von der goldenen Regel Verkehrsknotenpunkte großräumig zu umgehen, werde ich diesmal in Bordeaux ein möglichst zentral gelegenes Hotel aufsuchen, um so wenigstens einen ungefähren Eindruck vom Charakter der Stadt zu bekommen. Noch ein gutes Stück vom Stadtrand entfernt, verlasse ich die stressige Lasterpiste und schlage mich seitwärts in die Weingärten. Ich folge einem kleinen steinigen Holperpfad solange, bis der ach so lästige Verkehrslärm allmählich nachlässt und nur noch als leises monotones Brummen zu vernehmen ist. Die plötzliche Ruhe ist Balsam für die arg strapazierten Nerven. Ein geeigneter Lagerplatz ist schnell gefunden. Die Satteltasche dient wie schon so oft als Tisch und Theke. 

Die BarDie Bar

Ich bin nicht sehr hungrig, mein Magen ist sauer, er rebelliert, die Hektik des Verkehrs stößt ihm übel auf. Da kommt mir Wilhelminens 'Pinot Gris' in den Sinn. Die Flasche fühlt sich noch angenehm kühl an. Ich finde ein Gläschen kann nicht schaden. Außerdem sagt man, Alkohol beruhige die Nerven. Der erste Schluck erweist sich als wahre Gaumenfreude, trocken, prickelnd und leicht fruchtig, auf jeden Fall ungewöhnlich süffig. Vielleicht ist er eine Idee zu warm, aber ein guter Weißwein macht das mit und entfaltet gerade dann sein volles Bouquet. Unter diesen Umständen ist es nur allzu verständlich, dass es schier übermenschlicher Willenskraft bedurft hätte einem zweiten Gläschen zu widerstehen. Ich fühle mich wohl in dieser weinträchtigen Umgebung, die friedliche Ruhe tut ein Übriges, und ich gerate allmählich in euphorische Stimmung. 

Mit mir und der Welt im Einklang, genehmige ich mir schließlich noch ein drittes, 'letztes' Gläschen. ... mit der Welt in Einklang! Im Wein liegt Wahrheit sagt man, und langsam gelange ich zu der Erkenntnis, dass es nicht besonders weise sei die jetzt halbvolle Flasche durch die Gegend zu schaukeln. Die permanenten Erschütterungen würden die feine Blume dieses wunderbaren Rebensafts sicher zerstören. Außerdem habe ich Wilhelmine versprochen ihren 'Pinot Gris' mit der ihm gebührenden Pietät zu behandeln. Oh nein, ich bringe es nicht fertig ihn nun wieder ins Dunkel der Satteltasche zu verbannen! Über den richtigen Umgang mit den Gaben der Natur philosophierend, schenke ich mir noch mal ein. Gläschen für Gläschen preisend komme ich nach und nach der Flasche auf den Grund. Die Welt ist groß und rund und schön und Radfahren ist schöner als Fliegen! Doch die 'Ein-Mann-Mini- Orgie' verfehlt nicht ihre Wirkung. Inmitten der knorrigen Rebstöcke sinke ich schließlich, etwas schläfrig geworden, ins kühle Gras. Für einen Moment schließe ich die Augen. 

Der erfrischende zweistündige Schlaf macht mich wieder fit. Es ist 15 Uhr und ich schicke mich an die restliche Strecke bis Bordeaux hinter mich zu bringen. Meine anfängliche Benommenheit legt sich bald, und ein kühler Gegenwind macht mich schnell wieder verkehrstauglich. 

Steinerne Brücke
Garonne, steinerne Brücke 

Das ist auch nötig, denn je mehr ich mich der Stadt nähere, desto dichter wird der Verkehr. Auf dem 'Pont de Pierre', der steinernen Brücke über die Garonne, ist das Chaos dann perfekt. Ich stecke im Stau! Eingekeilt zwischen einer hohen Bordsteinkante auf der einen und stinkenden, lärmenden Lastwagen auf der anderen Seite, muss ich immer wieder anhalten. Die Brummis fahren auf der engen Brücke so dicht heran, dass mir Hören und Sehen vergeht. Das stehe ich nicht lange durch. Entnervt gebe ich auf, steige ab und schiebe. Die Brücke ist ziemlich lang. An ihrem Ende wende ich mich dem Flussufer folgend nach rechts. Der Verkehr ist hier zwar etwas weniger brutal, trotzdem ziehe ich es vor auch weiterhin zu schieben. So lässt sich ungestörter die prunkvolle Architektur entlang der weiten Flussschleife betrachten. 

BrunnenFontaine des Trois Graces - La Douane

Die imponierenden Fassaden machen sehr viel her. Sie gelten laut Reiseführer als gelungenes Beispiel für die europäische Städtebaukunst des 18. Jahrhunderts. Ich denke, das kann man so stehen lassen und habe dem nichts hinzuzufügen. Die Garonne hat hier eine beachtliche Breite. Am jenseitigen Ufer ragen die rostbraunen Wracks einiger Schiffe aus dem grauen Schlick. Den Aufbauten nach könnte es sich um Kriegsschiffe handeln, die hier versenkt und dann vergessen wurden. Zurück, flussaufwärts blickend, leuchtet nun in der Ferne der 'Pont de Pierre' mit seinen 17 Rundbögen im milden Licht der Abendsonne. Auf der Garonne herrscht zurzeit kaum Schiffsverkehr, nur ein einzelner Schleppkahn stemmt sich leise tuckernd gegen den träge dahinfließenden mächtigen Strom. Ich schiebe weiter den 'Quai de la Douane' hinunter und gelange an die 'Place de la Bourse' mit dem Börsengebäude, dem 'Hotel de la Bourse' und dem im gleichen Stil errichteten Zollamtsgebäude, der 'Douane'. 

Grand TheatreLe Grand Théâtre

Über den 'Cours du Chapeau Rouge' erreiche ich schließlich die 'Place de la Comedie' mit dem berühmten 'Grand Théâtre'. Dieses in der Architektur eines griechischen Tempels errichtete Prestigegebäude stellt mit seiner korinthischen Kolonnade und den mächtigen Kolossalstatuen der 9 Musen und der Göttinnen Juno, Minerva und Venus so etwas wie das Wahrzeichen der Stadt dar. Weinfreunden dürfte das 'Grand Théâtre' auch von diversen Weinflaschenetiketten her bekannt sein. Auf der Suche nach einem nicht zu teuren Hotel durchstreife ich einige kleine Gassen und lande schließlich im 'Hotel du Sud'. Es macht auf mich einen nicht gerade einladenden Eindruck, aber es ist relativ billig, zentral gelegen, und eine Abstellmöglichkeit für das Fahrrad gibt es auch. Was will ich mehr? Die Dame am Empfang gibt sich erstaunt und sieht mich zweifelnd an, so als wolle sie sich vergewissern, ob ich wirklich hier übernachten möchte. Ich führe dieses leicht befremdliche Verhalten auf mein nicht alltägliches Radleroutfit zurück. Ein weiterer Grund für ihren Argwohn mag wohl der sein, dass ihre Gäste im Allgemeinen nicht mit dem Fahrrad anzureisen pflegen. Ich bekomme dennoch ein Zimmer. Es liegt direkt unter dem Dach, und am Knauf der Tür zum Lift prangt ein Schild mit der Aufschrift: "En panne!". Mir bleibt aber auch nichts erspart! Über ein schmales verwinkeltes Stiegenhaus wuchte ich die schwere, unhandliche Satteltasche nach oben, und das fünf Stockwerke hoch! 

Das Abendessen, ein Fischgericht, ist nur bedingt genießbar. Ich hätte mir bei der Auswahl des Lokals mehr Zeit lassen sollen. Es gilt, das ganze möglichst schnell zu vergessen. Ein kleiner Zug durch die Gemeinde wird mir dabei helfen. Ich überquere die 'Esplanades des Quinconces', den angeblich größten urbanen Platz Europas. Dort fällt sofort ein besonders aufwändig gestalteter Brunnen ins Auge. 

Esplanade des Quinconces, BrunnenEsplanades des Quinconces, Brunnen

Ich interpretiere das kunstvolle Ensemble als 'Ben Hur im Streitwagen, in Bronze und kurz vor dem Ertrinken'! Ich schlendere noch ein Stück flussaufwärts den 'Quai Louis XVIII' entlang und begebe mich dann ganz in der Nähe meines Hotels in eine ziemlich große Bar, um mir noch einen Schlummertrunk zu genehmigen. Der Mann hinter der langen Theke ist sehr gesprächig. Er will alles ganz genau wissen. Dann ruft er einen Kollegen herbei, um ihm einen Typen zu präsentieren, der soeben 'Munich - Bordeaux en velo' gemacht hat. Sein Kumpel ist ebenfalls begeisterter Radler, und natürlich gibt's einiges zu erzählen. An diesem Abend wird es wieder einmal ziemlich spät.

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