11. Etappe, von Charlieu nach Châtel Montagne

Mittwoch 4.6.86

Der gestrige Ruhetag hat mir sehr gut getan, nur das Schlafdefizit der vergangenen Nacht macht mir noch etwas zu schaffen. Ich frühstücke im Campingwagen, draußen ist alles nass. Das Gewitter hat sich verzogen und die Sonne strahlt wieder aus einem wolkenlos blauen Himmel, so als wäre nichts gewesen. Unausgeschlafen trödle ich vor mich hin, verstaue nach und nach das nasse Zelt und meine übrigen Utensilien in den Satteltaschen. Es überrascht mich immer wieder wie viel da rein geht. So gegen 10 Uhr passiere ich die Pforte des Campingplatzes. Aus der Rezeption ertönt ein mehrstimmiger Chor mit aufmunternden Zurufen: "Bon courage! - Bonne route! - Bon voyage! ". Mit einem "Merci bien! Au revoir!" verabschiede ich mich und winke noch einmal zurück.

Am Ortsausgang von Charlieu suche ich noch schnell eine Telefonzelle auf um ein paar Worte mit der lieben Irene zu wechseln, der zweitbesten aller Ehefrauen. Die Beste hat ja bekanntlich dieser Kishon. In Erwartung mitfühlender Anteilnahme berichte ich ihr von Poseidons nächtlichem Treiben. Ihren spöttischen Kommentar, den ich hier lieber nicht wiedergeben möchte, stecke ich einfach weg. Zu Hause ist alles in Ordnung und dem Hund geht es auch gut.

Loire Loire

Inzwischen hat sich der Himmel wieder etwas bewölkt und die Sonne zieht sich mehr und mehr zurück. Ich überquere das breite, naturbelassene Flussbett der Loire. Vor mir liegt nun ein ziemlich ebenes, saftiggrünes Weideland in dem Herden von wohlgenährten, schwarz-weiß gefleckten Rindern friedlich vor sich hin grasen. Ohne mich besonders anstrengen zu müssen gleite ich flott über den glatten Asphalt durch eine lieblich ländliche Idylle. Radfahren kann ja so schön sein! So mancher Wiederkäuer am Straßenrand hebt bei meinem Erscheinen erstaunt den Kopf und unterbricht für einen Moment verständnislos glotzend seine wiederkäuende Hauptbeschäftigung.

Wiederkäuer Wiederkäuer

Im Nordwesten ziehen bedrohlich dunkle Gewitterwolken auf. Ich rechne mit dem Schlimmsten und sehe mich vorsichtshalber schon mal nach Unterstellmöglichkeiten um. Zum Glück kommt das Unwetter nur sehr langsam voran und es gelingt mir auf wundersame weise ständig vor ihm herzufahren, auch wenn es mir dabei beunruhigend dicht auf den Fersen bleibt. Poseidon, der, wie mir scheint, auch hinter dieser unfreundlichen Attacke steckt, will mich offenbar noch etwas zappeln lassen.

Bei St. Germain-Lespinasse beginnen die Höhenzüge der 'Monts de la Madeleine'. Das flotte Pedalieren hat hier ein Ende. Kehre für Kehre das schwere Gepäck wuchtend, schraube ich mich nun in Serpentinen hinauf auf eine Höhe von knapp 800 Metern. Der Höhenunterschied beträgt etwa 500 Meter und die bis zu 9% igen Steigungen machen mir schwer zu schaffen. Sie gehen an meine Reserven und kosten viel Schweiß. Obwohl ich unterwegs wiederholt kurze Pausen einlege um mich zu erholen und um die reizvolle Landschaft zu betrachten, sieht mich die Passhöhe ziemlich erschöpft und ausgepumpt im Grase liegen. Zu allem Überfluss holt mich jetzt auch noch das Gewitter ein, dem ich bisher so erfolgreich davon geradelt bin. Eine halbverfallene Scheune bietet nur spärlichen Schutz. Geduldig harre ich aus bis der Regen abzieht. Endlich ist es soweit! In feuchtkalter Kleidung begebe ich mich auf die 15 km lange Abfahrt. Der steife Fahrtwind lässt mich nun vollends auskühlen. Ich beiße die Zähne zusammen um sie am Klappern zu hindern. Auf regennasser Straße erreiche ich schließlich Châtel-Montagne, von unten bis oben total verdreckt! Wie einst Richard III ein Königreich für ein Pferd gegeben hätte, so gäbe ich nun eines hin für eine heiße Dusche. Schnurstracks steuere ich das einzige Hotel am Ort an.

Das 'Hotel du Centre' tut sich nicht gerade durch besonderen Luxus hervor, aber mein Zimmer ist sauber, und die alten, dunklen Möbel darin sind irgendwie gemütlich. Doch was beinahe noch wichtiger ist, hier kocht Madame noch selbst, und das nicht schlecht.

Notre Dame 

Notre Dame

Der kleine Ort Châtel-Montagne besitzt mit seiner 'Notre Dame' eine sehenswerte, gut erhaltene romanische Kirche aus dem 12. Jahrhundert. Das Bauwerk steht ziemlich frei in der Landschaft und ist in seiner monumentalen Erscheinung sehr beeindruckend. Sein Inneres ist eher etwas düster, was die bunten Glasfenster gegen das Tageslicht aber um so heller erstrahlen lässt.

Fenster 

Fenster

Die frischen Farben fordern unwiderstehlich dazu heraus fotografiert zu werden. Ich bemühe mich sie richtig belichtet in den schwarzen Kasten zu bekommen und versuche mehrere Einstellungen in der Hoffnung eine werde schon passen. Beim Abendessen mache ich die Bekanntschaft von René M., einem drahtigen, braungegerbten Typen, der ebenfalls mit dem Fahrrad unterwegs ist. René ist 60 Jahre alt, seit 5 Jahren Rentner und in Dünkirchen zu Hause. Von dort ist er auf seinem Rennrad hierher geradelt. Sein Gepäck besteht nur aus dem Nötigsten: einer zweiten Garnitur Radlerklamotten, einer Regenhaut, einem kleinen Fotoapparat und einem Portemonnaie. Das alles ist in seiner Lenkertasche verstaut. Ich finde das sehr erstaunlich und stelle mir vor wie ich damit wohl im Jura zurecht gekommen wäre.

Im Lauf der Unterhaltung erfahre ich, dass er als Angehöriger des fahrenden Personals beim SNCF, der französischen Eisenbahn, bereits mit 55 in Rente gehen konnte. Seitdem unternimmt er jedes Jahr eine größere Fahrradtour, manchmal auch zwei. Er nächtigt dabei immer in Hotels, was sein geringes Gepäck erklärt. Bei einigen Gläsern Pastis lernen wir uns etwas näher kennen. Er erzählt von seinen Touren, den Pässen und Bergstrecken die er erklommenen hat. Dabei fallen so klangvolle Namen wie 'Gallibier', 'Iseran' und 'La Bonette', um nur einige zu nennen. Ich bekomme richtig Respekt vor ihm. Seine Schilderungen machen Appetit es ebenfalls mal mit einem Alpenpass zu versuchen. Ich schildere ihm mein gegenwärtigen Vorhaben und es wird noch ein unterhaltsamer Abend. Schließlich vereinbaren wir, uns gegenseitig, nach vollbrachter Tat, Ansichtskarten zu schicken, er mir aus Dunkerque und ich ihm aus Arcachon. René will noch ein wenig die nähere Umgebung erkunden und sich dann nach ein paar Tagen wieder auf den Heimweg machen. Zu Hause angekommen, wird er dann 4 Wochen unterwegs gewesen sein und ungefähr 2000 km zurückgelegt haben. Insgeheim hoffe ich, sollte es mir vergönnt sein einmal sein Alter zu erreichen, noch ebensoviel Elan und Begeisterungsfähigkeit zu besitzen wie er.

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